Dramatiker*Innen-Labor „Out of Sight“

Flaschenpost aus den Theatern der Welt

05:49 Minuten
Vier Menschen schauen erschrocken. Die Bildunterschrift erklärt, dass Jan gerade einen weiteren Schuss abgegeben habe.
Schlüsselszene mit Folgen: Jan gibt einen weiteren Schuss ab. © Label Noir/Maxim Gorki Theater
Von Gerd Brendel · 29.08.2020
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Texte über das Verschwinden haben vier Autor*innen aus Kurdistan, Südafrika, Palästina und Mexiko für ein Projekt am Maxim-Gorki-Theater geschrieben. Corona zwang das Theater zu neuen Formen: "Out of Sight" wird auf der Leinwand und im Netz gezeigt.
Ein Maisfeld in Südafrika, ein Massengrab in Mexiko, ein Brunnen mit den Knochen Ermordeter im türkischen Kurdistan, eine Schule im Westjordanland: Tatorte und Schauplätze von vier Stücken zum Thema "Out of Sight" – Aus dem Blick –, geschrieben im Rahmen eines internationalen Dramatiker*innen-Labors.
Am 29.8. sind im Maxim-Gorki-Theater Ausschnitte zu sehen – als Filme, gedreht von Regie-Teams in Athen, Haifa, Mexiko-Stadt und Berlin. "Wir haben versucht, einen Hybrid aus Film und Theater auf der Schnittstelle zu inszenieren", sagt Johannes Kirsten, Chefdramaturg des Theaters.

Der distanzierte Kamerablick wirkt

In Berlin hat Lara-Sophie Milagro mit ihrem "Label Noir"-Ensemble Szenen aus dem Stück des südafrikanischen Dramatikers Monageng Motshabi, "Auf Noahs blutigem Regenbogen tanzen wir", umgesetzt:
Auf der Maisfarm der Van Vurrens wird ein junger Schwarzer vom weißen Sohn des Farmers erschossen. Familie und Polizei versuchen, den Mord zu vertuschen. Aber die schwarzen Nachbarn wollen das nicht hinnehmen. Es kommt zum Aufstand.
Fast reglos sprechen die Ensemble-Mitglieder die Dialoge. Die formale Strenge erinnert an die Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Immer wieder blicken sie in die Kamera und sprechen die Regieanweisungen. Aber gerade durch die Distanz wirkt der Text eindringlich.
"Uns hat interessiert, was das für uns hier 2020 in Berlin bedeutet", sagt Johannes Kirsten. "Und wie können wir diesen Text hier in unser Leben reinholen?"
Unser Leben, das ist auch das Leben der afrodeutschen Mitglieder von "Label Noir". Deren Berliner Alltag zeigt der Vorspann: Eine Darstellerin schlendert an der U-Bahnhaltestelle Mohrenstraße vorbei, eine andere steht an einer Kreuzung im Afrikanischen Viertel unter den Straßennamen mit deutschen Kolonisatoren.
Mitglieder des Künstler*innenkollektivs Label Noir Berliner Orten mit Kolonialgeschichte.
Berliner Kolonialgeschichte: Mitglieder von Label Noir vor Ort. © Label Noir/Maxim Gorki Theater
In der nächsten Szene wartet ihr Kollege vor einer Polizeiwache. Die Spuren des deutschen Kolonialismus im Stadtbild und Rassismus unter deutschen Ordnungshütern.
Mit der Realität von Schülerinnen im Westjordanland setzt sich das Stück "Graduation" der Palästinenserin Dalia Taha auseinander. Inszeniert hat es die mexikanische Regisseurin Lara Uribe als Punk-Ballett. Aus dem Off hört man drei aufgekratzte Mädchenstimmen.
Darstellerinnen des Films "Graduation" blicken mit Wollmasken in die Kamera.
Protest mit Maske: Nicht nur in Coronazeiten ein Thema. © Lara Uribe/Maxim Gorki Theater
Gerade haben sie die israelische Flagge vom Schulgebäude runtergeholt. Aber was als Abiturientinnenstreich beginnt, wird zu einer emotionalen Achterbahnfahrt für die drei zwischen wildem Aufbegehren und Resignation. Ihre Alter Egos im Film haben sich Wollmasken übergezogen, die an die Zapatisten von Subcomandante Marcos erinnern. An einer Stelle reißen sie Papier-Fahnen von einer Mauer und zerreißen sie eine nach der anderen.

Theater gegen das Vergessen

Aus "Out of Sight" wird nur allzu schnell: "Aus den Augen, aus dem Sinn". Dagegen schreiben die Dramatiker*innen mit ihren Stücken gegen das Vergessen an. Gegen das Vergessen der Opfer und gegen das Vergessen des Leidens. Die Regisseure in Berlin, Haifa, Mexiko und Athen haben zu den Theater-Texten eigene Bilder gefunden zwischen Pathos und Wut. Flaschenpost-Nachrichten aus der globalen Theaterwelt.
Auch die ist in den letzten Wochen aus dem Blickfeld,"Out of Sight", geraten. Die Filme lassen die Leerstelle schmerzlich bewusst werden, aber dafür finden sie eine ganz eigene filmische Sprache, die in Bann schlägt. Hoffentlich denkt jemand heute Abend daran, den Schlussapplaus aufzunehmen, für die Theatermacher in Mexiko, Athen und Haifa. Denn den gibt es mit Sicherheit.
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