Zwischen Narkoseprotokoll und Epilog

23.05.2011
"Schwarze Sonne scheine" erzählt die Geschichte eines 24-jährigen Krebspatienten, dem höchstens noch sechs Monate Leben prophezeit werden. In seinem zweiten Roman verfolgt Albert Ostermaier einen radikalen Erzählansatz.
Jeder Organismus trägt die Disposition für ein Krebsgeschwür in sich. Auch gegen gefährliche Viren ist das Immunsystem nicht gefeit. Doch wird die Frage, warum ein Zellsystem plötzlich ausbricht und zum lebensbedrohlichen Krankheitsherd mutiert, zumeist ausgeblendet.

In Albert Ostermaiers Roman steht die Diagnose "tödlicher Herpesvirus" am Beginn eines atemlosen Bewusstseinsstroms, der sich aus zum Teil surreal anmutenden Szenarien zusammensetzt. Zwischen "Narkoseprotokoll" und "Epilog" rauscht die Geschichte des 24-jährigen Sebastian vorbei, dem höchstens noch sechs Monate Leben prophezeit werden.

Wie paralysiert, verharrt er anfangs in einer Schockstarre und lauscht der inneren Uhr, die mörderisch tickt. Im rückläufigen Zeitrafferprinzip wird das bisherige Leben einer schmerzhaften Radikalkur unterzogen. Denken und Fühlen kippen aus der Zeit und Sebastian beginnt, das Vergangene mit einem schonungslosen Blick zu betrachten. "Ich lebte an der langen Leine meiner Nabelschnur und drehte mich um mich selbst, während ich fortlief und dabei im Kreis rannte."

Doch etwas scheint an dieser Geschichte einer vermeintlichen Krankheit zum Tode nicht zu stimmen. Die behandelnde Ärztin Dr. Scher, eine Virologin am Max-Planck-Institut, ist von einer geheimnisvollen Aura umgeben, die dem Patienten Angst einflößt. Sie wird als androgyne Gestalt beschrieben, an der "jede Faser ein harter Strang" ist. Sebastian zweifelt an ihrer Diagnose und er holt eine zweite medizinische Meinung ein. Sein engster Vertrauter und einstiger Mentor, der katholische Priester Silvester, weicht ihm aus und glaubt bedingungslos den Lichtgestalten der Medizin. Aber auch die Eltern erscheinen wie Komplizen, die ein Geheimnis hüten. Alle vertreten die Meinung, Dr. Scher sei eine geniale Kapazität und ihr Urteil unantastbar. Nur seine Freundin Klara tritt aus dem Dunstkreis dieser Gläubigkeit heraus und bestärkt ihn in seiner langsam wachsenden Widerständigkeit. Resolut fordert sie ihn auf, aus seinem "Klosterkoma" aufzuwachen, um sich aus dem "Freundesverratsteufelskreis" zu befreien.

Albert Ostermaier konstruiert ein raffiniertes Erzähllabyrinth. Doch geht es ihm dabei nicht um spannungsreiche Effekte. Im Zentrum seines Romans steht ein abgrundtief Verzweifelter, dem das Todesurteil eine kritische Distanz zu sich selbst verschafft. Endlich vermag er die moralische Schere der Sündhaftigkeit im Kopf zu ignorieren und er bekennt sich zu seiner Schriftstellerexistenz: "Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose...".

In seinem zweiten Roman verfolgt Albert Ostermaier einen radikalen Erzählansatz. Es geht ihm um die "implantierten" Ängste und um Machtmissbrauch, vor allem vonseiten der Kirche. Denn der allmächtige Glaube kann wie ein Krebs wüten und der Krebs jeden Glauben auslöschen.


Besprochen von Carola Wiemers


Albert Ostermaier, Schwarze Sonne scheine, Roman,
Suhrkamp Verlag 2011, 288 Seiten, 22,90 Euro

Links bei dradio.de:
Tragische Helden einer unbedingten Liebe
Albert Ostermaier: "Zephyr". Roman, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2008, 222 Seiten, 17,80 Euro

Das kalte Blau von Blicken
Albert Ostermaier: "Polar", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 139 Seiten
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