Zwischen Alpenglühen und Gewaltorgien
Ein ganz anderes Gesicht zeigt der als typischer schweizer Biedermeier bekannte Pfarrer und Schriftsteller Jeremias Gotthelf in dem von Peter von Mann herausgegebenen Buch "Wilde, wüste Geschichten". Gotthelf erkundet darin das Destruktive der menschlichen Natur, das Asoziale und Gefährliche, das jenseits von Moral und Vernunft existiert.
Jeremias Gotthelf (alias Albert Bitzius, 1797 - 1854) ist fast so etwas wie ein Synonym für die Literatur des Schweizer Biedermeier: Der Pfarrer, der vorzugsweise über das bäuerliche Leben im Kanton Bern schrieb, hat für viele den Appeal eines röhrenden Hirschs über der Kredenz. Doch dieser leidenschaftliche Vielschreiber, Pädagoge, Politiker und Erzähler hatte viele Seiten, und war keineswegs nur der Anhänger ländlicher Idyllen und Ankläger sozialer Missstände, als der er heute meist gelesen wird.
Im Sommer dieses Jahres wird der erste Band (von geplanten 70) einer historisch-kritischen Gesamtausgabe erscheinen, die vielleicht manches an diesem Bild gerade rücken wird. Zunächst aber hat der Herausgeber einer Edition von Schweizer Klassikern, Peter von Matt, ein Gotthelf-Buch aus wenig bekannten Erzählungen zusammengestellt: Darin zeigen vierzehn "Wilde, wüste Geschichten" einen Autor, den das Destruktive der menschlichen Natur zutiefst faszinierte, das Asoziale und Gefährliche, das jenseits von Moral und Vernunft existiert. Er beschrieb es wieder und wieder, in vielen Varianten.
Die ausführliche Studie einer eiskalten Ehe, die dem Diktat des Materialismus vollständig unterliegt ("Harzer Hans, auch ein Erbvetter") findet ihre Ergänzung in einer überaus bösen Kurzerzählung von nur zwei Seiten, die für die Frage nach Haben oder Sein eine denkbar schwärzeste Antwort und Pointe findet.
Das eindrucksvollste Stück Prosa in diesem Band ist sicherlich die 100 Jahre lang (bis 1958) unter Verschluss gehaltene Erzählung "Die Rotentaler Herren", die die Geschichte der Schweiz allegorisch als Orgie der Gewalt schildert, als eine Art apokalyptischen Klassenkampf mit grausamsten Details, die an die Phantasmagorien drogeninduzierter Undergroundliteratur erinnern. Noch dazu stellt Gotthelf das ganze Grauen als Gutenachtgeschichte in eine idyllische Rahmenhandlung mit Alpenglühen und lieblichen Tälern, weißhaarigen alten Bauern, Holzbänkchen und Pfeifenrauch.
Drei dieser Erzählungen allerdings sind eine kleine Zumutung für deutsche Leser, da lange Passagen direkter Rede darin in Berndeutsch abgefasst sind. Für den Rest gilt, dass vor allem die Fallhöhe zwischen bukolischen Szenerien und abgründigen Bosheiten einen starken Reiz ausübt. Jeremias Gotthelf, das weiß man nach dieser Lektüre, war ein Autor, der Abgründe genau erforschte - nicht nur aus erzieherischen Gründen. Und der von der Wirklichkeit seiner Alpendörfer - ziemlich treffend, wie man eineinhalb Jahrhunderte später feststellen kann - auf den Schrecken und den Segen der Moderne schloss.
Besprochen von Katharina Döbler
Jeremias Gotthelf: Wilde, wüste Geschichten
Herausgegeben von Peter von Matt
Nagel & Kimche, Zürich 2012
256 Seiten, 19,90 Euro
Im Sommer dieses Jahres wird der erste Band (von geplanten 70) einer historisch-kritischen Gesamtausgabe erscheinen, die vielleicht manches an diesem Bild gerade rücken wird. Zunächst aber hat der Herausgeber einer Edition von Schweizer Klassikern, Peter von Matt, ein Gotthelf-Buch aus wenig bekannten Erzählungen zusammengestellt: Darin zeigen vierzehn "Wilde, wüste Geschichten" einen Autor, den das Destruktive der menschlichen Natur zutiefst faszinierte, das Asoziale und Gefährliche, das jenseits von Moral und Vernunft existiert. Er beschrieb es wieder und wieder, in vielen Varianten.
Die ausführliche Studie einer eiskalten Ehe, die dem Diktat des Materialismus vollständig unterliegt ("Harzer Hans, auch ein Erbvetter") findet ihre Ergänzung in einer überaus bösen Kurzerzählung von nur zwei Seiten, die für die Frage nach Haben oder Sein eine denkbar schwärzeste Antwort und Pointe findet.
Das eindrucksvollste Stück Prosa in diesem Band ist sicherlich die 100 Jahre lang (bis 1958) unter Verschluss gehaltene Erzählung "Die Rotentaler Herren", die die Geschichte der Schweiz allegorisch als Orgie der Gewalt schildert, als eine Art apokalyptischen Klassenkampf mit grausamsten Details, die an die Phantasmagorien drogeninduzierter Undergroundliteratur erinnern. Noch dazu stellt Gotthelf das ganze Grauen als Gutenachtgeschichte in eine idyllische Rahmenhandlung mit Alpenglühen und lieblichen Tälern, weißhaarigen alten Bauern, Holzbänkchen und Pfeifenrauch.
Drei dieser Erzählungen allerdings sind eine kleine Zumutung für deutsche Leser, da lange Passagen direkter Rede darin in Berndeutsch abgefasst sind. Für den Rest gilt, dass vor allem die Fallhöhe zwischen bukolischen Szenerien und abgründigen Bosheiten einen starken Reiz ausübt. Jeremias Gotthelf, das weiß man nach dieser Lektüre, war ein Autor, der Abgründe genau erforschte - nicht nur aus erzieherischen Gründen. Und der von der Wirklichkeit seiner Alpendörfer - ziemlich treffend, wie man eineinhalb Jahrhunderte später feststellen kann - auf den Schrecken und den Segen der Moderne schloss.
Besprochen von Katharina Döbler
Jeremias Gotthelf: Wilde, wüste Geschichten
Herausgegeben von Peter von Matt
Nagel & Kimche, Zürich 2012
256 Seiten, 19,90 Euro