Zweiter Weltkrieg

Das Schweigen endgültig gebrochen

Von Jenni Roth · 03.09.2014
Die Schriftstellerin Katja Kettu rührt mit ihrer Geschichte von der Liebe einer finnischen Krankenschwester zu einem SS-Offizier an einem Tabu, denn Finnland tut sich schwer mit seiner Vergangenheit. Doch Kettus Buch trifft einen Nerv: Es stand wochenlang auf Platz eins der Bestsellerlisten und wird nun auch noch verfilmt.
Endlich wieder daheim. Drei Katzen laufen Katja Kettu entgegen und schnurren um ihre Beine. Einen Monat war sie weg. Recherchen in Amerika, dann in ihrer eigentlichen Heimat Lappland. Die Wohnung – das reinste Chaos. Kleider, Bierdosen, Blätter, Stifte, Schminke. Aber Kettu sagt nicht: Oh, tut mir leid, ich hab nicht aufgeräumt.
Katja Kettu, Autorin, Trickfilmerin und Sängerin in einer Punkband, stammt aus Rovaniemi, einer kleinen Stadt am Polarkreis. Sie trägt rot-schwarz, die Farben der Anarchie, sagt sie. Auch ihre wilde Haarpracht ist schwarz gefärbt.
Briefe aus Kriegszeiten bilden die Grundlage
Das Chaos hat eine feine Adresse: Merikatu, der "Meerweg", im Jugendstil-Viertel Eira. Hohe Decken, Erker mit Fenstern zum Meer, es riecht nach Holz. Hier hat um 1900 der Nationaldichter Eino Leino gelebt, nebenan die Autorin L. Onerva. Und jetzt Kettu, deren Roman "Wildauge" in Finnland wochenlang auf Platz eins der Bestsellerliste stand. Geschrieben hat sie ihn hier am Schreibtisch, mit Blick aufs Meer und drei mächtige Ahornbäume.
"Lass uns zum Wasser gehen, da gibt's ein neues Café: ein renoviertes Lagergebäude, wo es nach frischem Holz riecht, nach Wald. Ich hab das kürzlich entdeckt und geh jetzt immer hin..."
Draußen glitzert die Sonne Sterne ins Wasser. Im Café zieht Kettu ihre Sonnenbrille auf, den Pulli aus, und präsentiert ihre tätowierten Arme: Zwei verschlungene keltische Schlange, in denen sie die Verwicklung menschlicher Beziehungen sieht. Und auf den Schultern trägt Katja Kettu Rosen.
"Meine Oma hat immer gesagt: Geh durch die Welt, als hättest du Rosen auf den Schultern. Daraus hab ich dann das Tattoo gemacht. Kommentiert hat sie das nie... Überhaupt ist meine Oma so stark und positiv! Sie kam aus armen Verhältnissen, hat allein fünf Kinder aufgezogen und als Lehrerin gearbeitet. Selbst im Krieg hat sie sich ihre Träume bewahrt. Ihre Briefe klingen so poetisch! Schreibt Sachen wie: 'Da fliegt meine Seele wie eine Schwalbe...'"
Diese Briefe aus Kriegszeiten bilden die Grundlage für "Wildauge". Der Roman erzählt von einer Hebamme, einer Außenseiterin, der magische Kräfte zugeschrieben werden, und die sich unsterblich in einen SS-Offizier verliebt.
Die Deutschen hinterließen verbrannte Erde
Finnland, 1944: Mehr als 200.000 Wehrmachtssoldaten sind in Lappland stationiert. Deutsche und Finnen sind Verbündete, ihr gemeinsamer Feind ist die Sowjetunion.
Aber dann folgte der "Sommer der Angst": 1944 sah Finnland die Niederlage Deutschlands voraus und schloss einen Separatfrieden mit den Russen. Und die verlangten den Abzug der Deutschen innerhalb von zwei Wochen – eine unrealistische Forderung, bei ihrem Rückzug hinterließen die Deutschen verbrannte Erde.
In dieser Zeit verortet Kettu ihre Hauptfiguren. Der Nazioffizier und die Hebamme arbeiten in einem Gefangenlager, und flüchten sich in eine Traumwelt ohne Gräueltaten – bis die politischen Geschehnisse, die Deutsche und Finnen plötzlich zu Feinden machen, alles zum Einstürzen bringen.
"Ich wollte eine Liebesgeschichte erzählen. Und mich hat die Schuldfrage interessiert. Im Krieg wird das Gebot 'Du sollst nicht töten' als erstes geopfert, alles steht Kopf. Ich wollte zeigen, was der Krieg mit Menschen machen kann und was die Liebe. Wenn Menschen sich in so einer Extremsituation verlieben, heben sie sich nichts für später auf, dann müssen sie den Moment leben. Diese Kraft und Wucht haben mich fasziniert."
Das Buch war umstritten, als es 2011 in Finnland erschien –Kettu hatte an ein Tabu gerührt: Über den Krieg wurde lange nicht gesprochen, über die Beziehungen finnischer Frauen mit deutschen Soldaten schon gar nicht. Sie waren als Nazi-Huren verschrien, verleugneten oft die eigenen Kinder. Und während des Kalten Krieges wollte man den großen Nachbarn Russland mit durchaus auch positiven Erinnerungen an die Deutschen nicht vergrätzen.
Gräueltaten, Scham - ein Schweige-Mechanismus
"In der Schule wollte ich in einem Referat finnische Kriegsgefangenenlager thematisieren – was mir mein Lehrer verbot. Es gab den Mythos vom reinen Finnland, man wollte nichts davon wissen, dass auch finnische Soldaten Gräueltaten begingen. Dazu kam die Scham der Frauen. Daraus wurde ein Schweige-Mechanismus. Wenn wir die Geschichten jetzt nicht hören, verschwinden sie!"
Mit diesem Gedanken steht Kettu nicht allein da. Vor allem junge Schriftstellerinnen nähern sich dem Krieg mit einem neuen, freien Blick. Die Autorin Irja Windisch hat Wehrmachtskindern bei der Suche nach deutschen Verwandten geholfen und darüber geschrieben.
"Und da ist der Dokumentarfilm 'Auf Wiedersehen Finnland' von Virpi Suutari. Als ich bei der Premiere die alten Frauen auf dem roten Teppich sah, hatte ich das Gefühl, jetzt haben sie ihre Menschenwürde zurückgewonnen. Das war sehr bewegend."
Gerade wird Kettus Roman fürs Kino verfilmt, das Schweigen scheint endgültig gebrochen. Endlich, sagt Kettu, sei doch die einzige "Sünde" der Frauen die Liebe gewesen. Also muss sie auch nicht lange überlegen, wenn man sie nach dem Soundtrack von "Wildauge" fragt...
Katja Kettu: "Wildauge"
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
Galiani, Berlin 2014
416 Seiten, 19,99 Euro