Gibraltar

Die britische Enklave und der Brexit

An der Grenze zwischen Spanien und Gibraltar stauen sich die Autos.
Grenzstation zwischen Spanien und Gibraltar: Der große Nachbar fordert regelmäßig die Rückgabe der britischen Enklave. © Michael Frantzen
Von Michael Frantzen · 14.03.2017
Deutlicher geht es kaum: 96 Prozent der Wahlberechtigten Gibraltars stimmten gegen den Brexit. Die Menschen im britischen Hoheitsgebiet an der Südspitze Spaniens müssen nun trotzdem versuchen, sich auf die Folgen des Austritts aus der EU vorzubereiten.
Das Ergebnis war eindeutig: 96 Prozent der Wahlberechtigten stimmten in Gibraltar gegen den Brexit. Gibraltar – das britische Überseegebiet an der Südspitze der Iberischen Halbinsel. Es steht seit 1704 unter der Souveränität des Vereinigten Königreichs und wurde 1713 von Spanien abgetreten, wird aber auch regelmäßig von Madrid zurückgefordert. Dass Gibraltars Einwohner fast ausnahmslos für einen Verbleib in der EU stimmen würden, kam nicht überraschend.
Die Felsenhalbinsel Gibraltar ist auf den wirtschaftlichen Austausch mit dem spanischen Hinterland angewiesen, auch auf die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU. Deshalb auch trifft der Brexit Gibraltar hart. Die Enklave hat sich als Steueroase positioniert und 500 EU-Finanzdienstleister haben hier Filialen.

Was passiert mit den Arbeitsplätzen?

Auch die New Economy ist vertreten: Allein die Online-Wettanbieter bieten 3500 Arbeitsplätze. Beharrlich kämpft man gegen den Ruf an, Gibraltar beherberge mehr Briefkastenfirmen als Einwohner. Und was passiert mit all den Jobs hier, wenn die britische Regierung in diesem Monat den Antrag auf den EU-Austritt stellt?
Das größte Problem wird der freie Personenverkehr sein. Die Hälfte der 24.000 Beschäftigten Gibraltars pendelt täglich zwischen Gibraltar und Spanien. Deshalb würde man hier gerne mit Schottland und Nordirland in der EU bleiben. Doch: "No way" tönt es dazu aus Downing Street Number Ten. Der Brexit und die Folgen – Michael Frantzen hat Gibraltar für die Weltzeit besucht.

Manuskript der kompletten Sendung:
"Hello."
"Hello! How are you?"
Der Kunde: Bei Stuart Mendez ist er König. Der lässige Typ in Blue Jeans lacht an diesem sonnigen Morgen. Für ihn gehört sich das so:
"I am the co-owner of Gibraltar Crystal."
Seit über 20 Jahren gibt es Stuarts Kristall-Geschäft. In bester Lage, direkt im Zentrum von Gibraltar, der britischen Enklave im Süden der Iberischen Halbinsel.
"Se ubicua en la Plaza de Casemates en Gibraltar."
Dass Stuart spielend vom Englischen ins Spanische wechselt: In Gibraltar ist das nicht ungewöhnlich. Viele der rund 30.000 Bewohner sind bilingual. Der Mittfünfziger hat sich hinter die Ladentheke gesetzt. Von hier hat er alles im Blick: Die Vitrinen mit den bunt schimmernden Kristallgläsern genauso wie die Eingangstür, durch die die Touristen strömen. Das "business": Es läuft nicht schlecht, wenn da nicht diese Unsicherheit wäre:
"Klar macht uns der Brexit zu schaffen. Wir wissen doch alle nicht, was uns erwartet. Wir stürzen uns ins Ungewisse - ohne es zu wollen."

Eine verschwindende Minderheit stimmte dafür

96 Prozent der Wahlberechtigten in Gibraltar stimmten im Juni vergangenen Jahres gegen den Brexit – darunter Stuart. Er musste da nicht lange überlegen:
"Ich bin mir sicher, dass es Komplikationen geben wird, hundertprozentig. Die spanischen Grenzbeamten werden uns das Leben schwer machen, wenn wir nicht mehr in der EU sind. Das passiert ja jetzt schon. Wir importieren alle Rohstoffe und Werkzeuge für unsere Kristall-Gläser aus Europa. Hauptsächlich aus Deutschland und Schweden. Wenn eine Lieferung ansteht, planen wir immer schon einen Puffer ein: Ok, das könnte jetzt wie-der zwei Tage dauern, bis alles die spanische Grenze passiert hat. Ob aus den zwei Tagen einmal zwei Wochen werden könnten - wegen des Brexit: Ich weiß es nicht. Das weiß niemand."
Stuart Mendez ist Miteigentümer von "Gibraltar Crystal"
Stuart Mendez in seinem Geschäft "Gibraltar Crystal"© Michael Frantzen
Dass Stuart so ein großer EU-Fan ist, hat auch mit seinem Geschäft zu tun. Er sprintet los durch das jahrhundertealte Gewölbe, in dem früher britische Soldaten untergebracht waren, um Gibraltar vor einem spanischen Angriff zu schützen. Irgendwo muss doch noch die Plakette sein. Da hinten ist sie. Vorsichtig streicht Stuart über die silberne Tafel mit dem EU-Logo. Sie erinnert daran, dass er als Geschäftsgründer Geld aus dem regionalen Entwicklungstopf der Europäischen Union bekam.
Bei "Crystal Gibraltar" verkaufen sie nicht nur Kristallgläser: Sie stellen sie auch vor Ort her. Genauer gesagt tun das die "Masters" – die Meister-Glasmacher. Juan ist einer von ihnen. Seit drei Jahren pendelt der 37-jährige Spanier zwischen Gibraltar und "El Campo de Gibraltar", dem spanischen Hinterland Gibraltars – so wie täglich 12.000 Pendler. Er strahlt, ihm gefällt der Job, dass er ein richtiges Handwerk gelernt hat. In La Línea, seiner Heimatstadt, war Juan jahrelang arbeitslos:
"Diese Unsicherheit ist schlimm. Wir machen uns alle Sorgen wegen des Brexit. Ich habe erst vor kurzem mit einem Freund darüber geredet, der auch in Gibraltar arbeitet. Wir fragen uns natürlich: Können wir unseren Job behalten? Was ist, wenn die spanische Regierung die Grenze dicht macht? In La Línea gibt es doch so gut wie keine Arbeit. Und wenn: Nur schlecht bezahlte. Ich hätte nie gedacht, dass die Brexit-Befürworter eine Mehrheit bekämen. Ich konnte es anfangs gar nicht fassen. Mein erster Gedanke war: Wenn die wirklich die EU verlassen, bist du deinen Job los."

Feierabend für den Meister-Glasmacher

Es ist Nachmittag geworden, kurz vor fünf. Ein paar Minuten noch, dann hat Juan Feierabend. Schnell noch den DVD-Player ausmachen, die Werkstatt abschließen. Juan schnappt sich seinen Rucksack und geht nach draußen. Rund eine halbe Stunde dauert der Fußweg rüber über die Grenze nach La Línea.
Das hat jetzt gerade noch gefehlt. Juan verzieht das Gesicht, seine Ex. Sie will wissen, wann er endlich Jordi abholt, ihren gemeinsamen Sohn. Drei, vier Mal die Woche schläft der 12-Jährige bei ihm. Juan ist es wichtig, trotz der Trennung weiter für Jordi da zu sein, ihm Sachen für die Schule und seine Hobbies kaufen zu können. Fußballschuhe, ein neues Trikot. Wenn ihm nur nicht der Brexit einen Strich durch die Rechnung macht. Schon jetzt hat er weniger Geld in der Tasche:
"Das spürst du. Am Morgen nach dem Brexit-Referendum hat das Pfund zehn Prozent seines Wertes gegenüber dem Euro verloren. Zwar hat es inzwischen wieder etwas Boden gut gemacht, aber der Wechselkurs ist immer noch viel schlechter als vor dem Brexit. Für mich bedeutet das, dass ich im Monat zwischen hundert und hundertfünfzig Euro weniger verdiene."
Die negativen Folgen des Brexits bereiten nicht nur Juan Bauchschmerzen. Auch Gibraltars Politiker sind besorgt – vor allem wegen Madrid, der spanischen Regierung. Doch Bange-Machen gilt nicht.
Fabian Picardo: "Wann immer sie zurückkommen: Der Union Jack wird immer über dem Felsen von Gibraltar wehen. Neben unser eigenen Flagge. Nur die EU-Fahne wird in ein paar Jahren verschwunden sein. Leider. Sie wird durch keine andere ersetzt."

Ein Chief Minister der deutlichen Worte

Er ist für seine deutlichen Worte bekannt: Fabian Picardo, der Ministerpräsident Gibraltars oder wie es hier heißt: der Chief Minister. Freitagmittag, kurz vor eins, "Covent Place Number Six", der Regierungssitz. Der Mann im blauen Nadelstreifen-Anzug hat nicht viel Zeit. Es sind hektische Tage für den Sozialisten. Der Brexit natürlich, was auch sonst. Wie viele Pro-Europäer hat ihn der Sieg der "Brexiteers" letzten Sommer kalt erwischt. Ein paar Tage – gibt er zu – sei er wie geplättet gewesen – bis er das tat, wofür die Leute in Gibraltar bekannt sind: Er passte sich der neuen Situation an. Mit als erstes machte der Chief Minister aus seinem "Europaminister" den "Minister für Europa und den EU-Austritt"; reiste nach Brüssel und London – zu Gesprächen mit Theresa May.
Bei der britischen Premierministerin versuchte er zu eruieren, ob es nicht doch noch möglich sei, dass Gibraltar zusammen mit Schottland und Nordirland in der EU bleiben könne. No way" tönte es aus "Downing Street Number Ten". Picardo zuckt die Schultern. Er hatte Mays Nein schon erwartet. Dass es auf einen harten Brexit hinausläuft, weniger. Doch so schnell ist jemand wie er nicht aus der Fassung zu bringen:
"Sie dürfen nicht vergessen: Für uns in Gibraltar ist der harte Brexit nur halb so schlimm wie für das restliche Königreich. Wir waren nie Teil des gemeinsamen EU-Binnenmarktes. Sprich: Wenn Großbritannien die EU und damit den gemeinsamen Binnenmarkt verlässt, ändert sich für uns erst einmal nichts. Wir sind auch viel kleiner und agiler als Großbritannien. Wir können viel schneller auf Veränderungen reagieren. Und schließlich: Am wichtigsten ist und bleibt für uns der freie Zugang zum britischen Markt. 90 Prozent unserer Dienstleistungen gehen nach Großbritannien, der Rest in die EU. Natürlich möchte keiner unserer Dienstleister zehn Prozent seines Umsatzes verlieren. Nur: Es bleiben uns ja noch die 90 Prozent. Deshalb: Solange wir Zugang zum britischen Markt haben, können wir das Minus von zehn Prozent verschmerzen."

Keine Angst vor den Spaniern

Der Brexit, nicht der Rede wert? Natürlich weiß auch Picardo, dass es so einfach nicht ist. Schließlich hat es Gibraltars Chief Minister nicht nur mit Brüssel und London zu tun, sondern auch mit Madrid. Noch jede spanische Regierung hat betont: Gibraltar gehört uns. Picardos Augen funkeln, auf das Thema hat er nur gewartet:
"Wir Gibraltarer kennen keine Angst. Spanien verlangt jetzt schon seit 312 Jahren die Rückgabe Gibraltars. Das wird nie passieren. Wir bleiben Britisch. 2002, beim letzten Referendum über den Status Gibraltars, haben wir uns zu 99 Prozent dafür ausgesprochen, bei Großbritannien zu bleiben. Das sollte sich der spanische Außenminister hinter die Ohren schreiben. Er hat ja vor kurzem gesagt, er fände es zwar bedauerlich, dass das Vereinigte Königreich die EU verlasse, doch er respektiere den Ausgang des Brexit-Referendums. Ich wünschte mir, er würde das gleiche über unser Referendum von 2002 sagen. Spanien kann bei den Brexit-Verhandlungen noch so sehr Druck ausüben: Sie werden Gibraltar nicht zurückbekomme, niemals. Sie werden wie immer scheitern."
Ereifert sich der Mann, der von sich sagt, er habe nichts gegen die Spanier, sondern nur gegen die spanische Regierung. Dazu muss man wissen: Picardo hat selbst spanische Vorfahren. Seine Großmutter mütterlicherseits kommt aus Andalusien. Als überzeugte Republikanerin flüchtete sie in den 30er-Jahren vor Francos Diktatur nach Gibraltar.
"Mensch, ich spreche perfekt Spanisch. Das hat mir meine Großmutter beigebracht. Sie werden es nicht glauben, aber: Als Kleinkind war Spanisch sogar meine Muttersprache. Englisch habe ich erst durch die Zeichentrickfilme im Fernsehen und in der Schule gelernt."
Fabian Picardo, der Chief Minister von Gibraltar
Ein Regierungschef der deutlichen Worte: Fabian Picardo, der Chief Minister von Gibraltar© Michael Frantzen

Ein Gewerksschaftsbüro und ein großer Festsaal

Spanisch sprechen sie auch auf der anderen Seite der Grenze, bei ASCEG, der Gesellschaft der spanischen Arbeiter in Gibraltar.
"Ay. Correcto. Correcto."
Seit einer halben Ewigkeit ist Salvador Molina Vorsitzender von ASCEG. Dürften bestimmt gut 30 Jahre sein, so genau weiß der quirlige Rentner das nicht. Täglich schaut er in seinem "despacho", seinem Büro, in einem der Plattenbauviertel von La Línea vorbei, meist am späten Nachmittag, nach der Siesta. Immer die gleiche Routine: Erst ein kurzer Schwatz mit Pepa, der Kellnerin nebenan in der Bar. Dann schließt er die drei Arbeitsräume und den Riesen-Festsaal auf, an dem Filmscouts auf der Suche nach einem 70er-Jahre-Ambiente ihre helle Freude hätten. Alles ist Retro hier: die braunen Sessel, die Plakate, die Fotos.
"Nos disfrutamos. Este soy yo."
Salvador verkleidet als Baby beim Karneval: Das waren noch Zeiten. Dieses Jahr werden sie wieder ihre legendäre Karnevalsfeier veranstalten – wie jedes Jahr im August, wenn ganz La Línea unter der mörderischen Hitze ächzt und alle über etwas Abwechslung froh sind. Letztes Jahr haben sie über tausend Tickets verkauft. Ob es diesmal wieder so viele werden: Salvador hebt die Hände. Wer weiß das schon. Jetzt, wo alle so nervös sind we-gen des Brexits. Fast täglich kommen Ratsuchende zu ihm. Besonders dann, wenn die spanische Regierung wieder einmal verkündet, in Punkto Gibraltar sei das letzte Wort noch nicht gesprochen. Salvador tippt sich an die Stirn: Wenn es nach ihm geht, soll Gibraltar das bleiben, was es die letzten mehr als dreihundert Jahre war, britisch:
"Ich würde gerne von meiner Regierung wissen: Falls ihr tatsächlich aus Rache wegen des Brexits die Grenze schließen solltet: Wohin sollen dann die ganzen spanischen Arbeiter gehen, die bislang in Gibraltar einen Job haben? Sollen die alle nach Deutschland? Das wäre doch Wahnsinn. Die spanische Regierung sollte verdammt noch mal die Interessen der arbeitenden Bevölkerung vertreten. Wir haben doch jetzt schon viel zu viele Arbeitslose. Ich kann dir sagen, was passiert, wenn Madrid wirklich die Grenze schließen sollte: Dann würden in La Línea die Lichter ausgehen. Die Leute würden in Massen auswandern. Es wäre das reinste Chaos."
Auf die Politikerkaste im fernen Madrid ist Salvador nicht gut zu sprechen – schon gar nicht auf Rajoy, den konservativen Ministerpräsidenten. Der Gewerkschafter hat sich mit einem lauten Plumps auf seinen Schreibtischstuhl fallen lassen. Er zeigt nach links: Da drüben, neben dem alten Kopierer: Der eingerahmte Passierschein aus den 50ern. Er stammt noch von Francisco, seinem Vater. Genau wie der Sohn suchte er sein Glück in Gibraltar, als Konditor. Salvador schließt für einen Augenblick die Augen, ehe er loslegt – mit den "Fakten", wie er das nennt: Dass 40 Prozent des Bruttosozialprodukts La Líneas in Gibraltar erwirtschaftet wird; die Arbeitslosigkeit in seiner Heimatstadt trotz alledem bei mehr als 35 Prozent liegt – eine der höchsten in ganz Spanien:
"Ich sage immer: Ich stamme nicht aus Europa, sondern aus der Dritten Welt. Wir leben in einer Bananenrepublik. Ich erkläre es dir: Nehmen wir mal an, ich würde in dein Land kommen und in Deutschland – keine Ahnung – 20 Jahre arbeiten. Dann würde mir die Zeit später auf meine Rente in Spanien angerechnet. Ist ja normal. Was aber glaubst du, passiert, wenn ich als Spanier in Gibraltar arbeite? Ich kann dir sagen, was passiert: Die Regierung erkennt deine Rentenansprüche nicht an. Egal, wie lange du auch in Gibraltar gearbeitet hast: Ob zehn oder 20 Jahre: Du erhältst in Spanien null Euro."

Aufregung über Spaniens Regierung

Über die spanische Regierung kann sich auch Gemma Vasquez aufregen. Auch wenn sie das nicht so zeigt wie Salvador. Dazu ist sie viel zu sehr Juristin. Und Britin. Wenn man so will, war die Frau mit den braunen Locken das Gesicht der Pro-Europa-Kampagne letztes Jahr beim Brexit-Votum. "Gibraltar stronger in Europe" – Gibraltar ist besser in Europa aufgehoben. Ihre Botschaft, findet Gemma, ist immer noch richtig:
"Ich war wirklich überrascht über das Ergebnis. Während der Brexit-Kampagne habe ich vier Monate lang praktisch nichts anderes getan, als mich für die Pro-EU-Seite einzusetzen. Ich bin kaum zum Arbeiten gekommen. Und dann das! Ich bin immer noch enttäuscht. Aber es hilft ja nichts. Jetzt müssen wir versuchen, dass Beste daraus zu machen."
Kaum jemand in Gibraltar ist so gut vernetzt wie Gemma. Die Mittdreißigerin ist Vorsitzende des Verbandes der Kleinunternehmer, sitzt im Aufsichtsrat der Lizenzbehörde und des staatlichen Rundfunks. Und dann ist da noch ihr Job als Juristin bei Hassans, einer der angesehensten Anwaltskanzleien des britischen Außenpostens. Gemma macht daraus nicht viel Aufheben. Gibraltar sei nun einmal klein, meint sie in ihrem Büro unweit des Jachthafens, wo die Baukräne Ballett zu tanzen scheinen – so viel wird hier gebaut:
"Ich denke weiterhin, dass die EU ein sinnvolles Projekt ist. Klar hat sie ihre Fehler. Die Bürokratie; irgendwelche komischen Gesetze, die in Brüssel verabschiedet werden und uns das Leben schwer machen. Aber letzten Endes überwiegen aus meiner Sicht für Gibraltar die Vorteile. Allein schon wegen unseres Verhältnisses zu Spanien. Durch die EU ist die Grenze viel durchlässiger geworden. Ganz einfach, weil Brüssel ein Auge darauf wirft. Die EU-Kommission hat dafür gesorgt, dass die Grenze offen bleibt. 2013 etwa, als es Probleme gab, hat die Kommission interveniert und der spanischen Regierung klar gemacht. So nicht! Kurze Zeit später war die Grenze wieder offen."
Eine Frau geht einen Tag nach dem Brexit-Referendum am Büro der Remain-Kampagne in Gibraltar vorbei.
Büro der Remain-Kampagne in Gibraltar © AFP / Sergio Camacho

Gebürtiger Brite an der Spitze der Handelskammer

Noch einmal zurück zum Casemates Square, dem Hauptplatz Gibraltars. Und damit zu Edward Macquisten:
"I'm an immigrant."
Ein Einwanderer ist er tatsächlich: Der Geschäftsführer der Handelskammer Gibraltars. Der gebürtige Brite, den es wegen der Liebe in den Süden verschlagen hat, nimmt Besucher vorzugsweise mit in den Besprechungsraum, um zu verdeutlichen, was Gibraltar so besonders macht. Direkt gegenüber von der Tür ist sie versammelt, die Präsidenten-Riege der 1882 gegründeten Handelskammer:
"Die Liste veranschaulicht ziemlich gut, wie sich nicht nur die Geschäftswelt Gibraltars verändert hat. Schauen sie da unten: Carver. Das war unser erster Präsident. Ein typisch britischer Name. Aber sie müssen die Liste nur weiter runtergehen. Einer seiner Nachfolger hieß Larrios. Ein spanischer Name. Oder hier: Russio, Stanieto. Isola. Alles Italiener."
Wie fast alle anderen in Gibraltar hat Edward gegen den Brexit gestimmt. Er ist in sein kleines Büro zurückgegangen, das von viel Arbeit kündet und einem Faible fürs Spanische. Sein oranges Wörterbuch ist dick wie ein Zementblock. Er hat früher in Madrid gearbeitet, daher sein Interesse. Doch das ist lange her. Er hat jetzt andere Sorgen. Wie geht es mit dem Wirtschaftsstandort Gibraltar weiter? Kaum ein Tag, an dem Edward nicht Anrufe oder E-Mails besorgter einheimischer Unternehmer bekommt. Die Online-Wettanbieter, die in den letzten Jahren über 3500 Arbeitsplätze geschaffen haben, bleiben noch relativ gelassen: Sie betrifft der Brexit nicht so sehr, schließlich bedienen sie fast ausschließlich den britischen Markt.

Finanzdienstleister strecken ihre Fühler anderswo aus

Doch was ist mit den gut 500 EU-Finanzdienstleistern, die sich wegen der niedrigen Unternehmenssteuer von zehn Prozent angesiedelt – und mit dafür gesorgt haben, dass sich die Zahl der Jobs innerhalb von zehn Jahren verdoppelt hat? Das, meint Edward lapidar, sei die "million pound question" – die Millionenfrage. Einige Finanzdienstleister hätten bereits reagiert – und ihre Fühler nach Malta oder Lettland ausgestreckt - um in den EU-Ländern eventuell Ableger zu gründen:
"Punkt eins: Die Leute in Gibraltar sind immer schon sehr anpassungsfähig gewesen - und widerstandsfähig. Punkt zwei. Der Zusammenhalt untereinander ist stark. Egal was für ein Problem auch auftaucht: Ein typischer Geschäftsmann oder eine typische Geschäftsfrau holt einmal tief Luft und sagt sich dann: OK, was sind meine Optionen, wie stelle ich mich am besten auf die neue Situation ein. Wir in Gibraltar mussten uns immer anpassen. Sie müssen gar nicht so weit zurückblicken: Vor 30 Jahren schloss die britische Regierung unsere Militärstation. Von einen Tag auf den anderen mussten wir lernen, auf eigenen Füssen zu stehen. Unser Wirtschaftsmodell heute ist ein komplett anderes als vor dreißig Jahren. Deshalb: Ja, ich mache ich mir wegen des Brexit Sorgen, aber: Wir werden schon zurechtkommen."
2017 wird kein einfaches Jahr für Gibraltar. Unternehmer – lautet eine Binsenweisheit - mögen keine Unsicherheit: Das muss man Edward nicht zwei Mal sagen. Doch der Mann von der Handelskammer bleibt zuversichtlich:
"Gibraltar will always be here."
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