Zwei Künstler betreiben "Abendbrotfeldforschung"

Tausche Gedicht gegen Weißwein

Roggenbrot mit Kräuterquark
Beim Künstlerpaar Ingke Günther und Jörg Wagner gibt es "Abendbrotkongresse". © imago / Chromorange
Von Tobias Wenzel · 06.11.2017
Das Abendbrot ist typisch deutsch und oft auch Resteverwertung: Was geben Kühlschrank und Speisekammer noch her? Zu so einer privaten Mahlzeit lädt man in der Regel niemanden ein. Das Künstlerpaar Ingke Günther und Jörg Wagner bricht seit Jahren diese Regel - mit ihren "Abendbrotkongressen".
Jörg Wagner schneidet Vollkornbrot im Haus der Kulturen der Welt, Ingke Günther deckt Tische. Daran sind Schilder angebracht mit Bezeichnungen wie "Auswärtige + Menschen mit Hang zu gekochten Eiern". Vorbereitungen für ein Abendbrot für bis zu 100 Personen.
Ingke Günther: "Man denkt ja, Abendbrot ist eine brottrockene Angelegenheit. Aber am Abendbrot lassen sich ganz viele Dinge festmachen, die wir als Künstler interessant finden: Es ist eine komponentenreiche Collage, also es kommt immer Unterschiedliches auf den Tisch. Es ist eine Scharniermahlzeit zwischen Arbeit und Freizeit. Also man hat viel Zeit, auch miteinander ins Gespräch zu kommen."
Jörg Wagner: "Herzlich willkommen beim Abendbrotkongress! Hier kommt der Tag auf den Tisch. Bitte checken Sie am Ausgabeschalter ein."
Die Abendbrotgemeinde lauscht amüsiert.
Jörg Wagner: "Haben Sie Verständnis, es wird ungerecht zugehen."
Die beiden Künstler inszenieren in ihrem "Abendbrotkongress" eine Mangelwirtschaft. Brot, Butter und Wasser gibt es für alle. Extras wie Käse und Wein bekommen nur einige. Einer Frau verweigert Jörg Wagner sogar ein Messer. Aus der Not entsteht die Tugend der Kommunikation und Kreativität:
Jörg Wagner: "Also kein gastronomischer Betrieb, der Rund-um-Service hat, sondern eher ein gemeinsames Versuchen: Was kriege ich? Was hat der andere, was ich nicht habe? Werde ich hier benachteiligt oder übervorteilt."
Till Hasbach: "Bisher haben wir fantastisch getradet. Wir haben nämlich unseren Käse, den wir vorher schon benutzt haben, für eine volle Flasche Rotwein getauscht. Das nenne ich mal einen Hans im Glück, der sich gewaschen hat!"
Till Hasbach vom Tisch "Generaldilettanten + Freunde der sauren Gurke" spricht plötzlich nur noch in Redensarten. Vielleicht, weil am Nebentisch "Improvisationstalente + Vortragende mit Käseleidenschaft" der Redensartenerklärer Rolf-Bernhard Essig sitzt.
Sein Käsebrot mit der halbierten Tomate ist noch unangetastet: Essig notiert fleißig Redensarten von seiner portugiesischen Nachbarin.
Rolf-Bernhard Essig: "Auf diese Weise ist das bei mir schon immer so gewesen wie bei Martin Luther bei den Tischgesprächen. Da gab es Geschwindschreiber. Die haben immer alles mitgeschrieben. Die hatten das aber so internalisiert, dass es für sie keine Arbeit war und sie die Leberwurst genauso genießen konnten."
Jörg Wagner: "Die Freunde der sauren Gurke bitte zum Ausgabeschalter!"

"Am Anfang gab es große Eifersüchteleien"

Die Freunde der sauren Gurke - alle längst beim Du - sind so vertieft ins Gespräch, dass sie den Aufruf nicht hören. Julia Paulus ergreift da die Gelegenheit - und die Gurken.
Julia Paulus: "Ich bin dort hingegangen und habe mich extra als Nicht-Freundin der Saure-Gurken-Tisch-Fraktion ausgegeben, sondern als Freundin der sauren Gurke, die aber einen Tisch vertritt, der eigentlich Knäckebrot heißt."
Margarida Farinha; "Kuddelmuddel!"
Jasminka Stenz: "Also in der Schweiz fängt man immer mit Käse an am Morgen. Und Znacht ist eher süß."
Znacht: das Abendbrot. Deshalb hat die Schweizerin Jasminka Stenz vom Tisch der "Diskussionswütigen + Käseliebhaber" das einzige Glas Nuss-Nugat-Creme ergattert. Dafür hat sie die Nacken der "Generaldilettanten + Freunde der sauren Gurke" massiert, um deren Willenskraft zu brechen. Ob das wohl die beiden Abendbrotfeldforscher gesehen haben?
Jörg Wagner: "Am Anfang gab es große Eifersüchteleien: Manche wollen ja nichts abgeben."
Ingke Günther: "Wenn man selber Hunger hat, dann gibt man nichts her. Dann lässt man sich nicht die Butter vom Brot nehmen."
Jörg Wagner: "Rotweintrinker, sehe ich, haben keinen Rotwein. Die auch bitte zum Ausgabeschalter!"
Ingke Günther: "Es sieht jetzt so langsam aus, als wenn es jetzt in die Diskussion geht. Die Münder wackeln nicht mehr vom Kauen. Die Menschen sind zufrieden."
Und satt. Aber noch durstig: Der Experte für Redensarten hat es auf den Weißwein am Nebentisch abgesehen. Und gibt alles mit einem Gedicht von Peter Rühmkorf:
Rolf-Bernhard Essig: "… etwas Größe unter den Nagel gerissen, etwas Vollkommenheit."
Till Hasbach: "Ich glaube, das ist eine halbe Flasche Weißwein wert. Und was sagt ihr?"
Jasminka Stenz: "Zum Wohl! Lechaim!"
Nach zweieinhalb Stunden mit schlicht bis kunstvoll garnierten Butterbroten und Gesprächen über den Tag, Ärzte ohne Grenzen und sehr lange Buchtitel geht der Abendbrotkongress zu Ende. Und das Konzept auf. Keiner hat sich ausgeschlossen gefühlt. Denn:
Ingke Günther: "Jeder ist Experte des Alltags und Experte seines eigenen privaten Abendbrotes."
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