Zuwanderung

Wir schämen uns!

Plakat der Befürworter der Initiative
Ein Plakat der Befürworter der erfolgreichen Initiative zur Beschränkung der Zuwanderung © dpa / picture-alliance / Thomas Burmeister
Von Stefanie Müller-Frank |
Mit hauchdünner Mehrheit beschlossen die Eidgenossen bei der Abstimmung am 9. Februar die Beschränkung der Einwanderung. Seitdem herrscht unter den 1,8 Millionen Ausländern in der Schweiz Verunsicherung.
Jens Eckstein betritt die Station, wirft sich einen Kittel über und begrüßt seine Kollegen, während er sich die Hände sterilisiert. Der 44-Jährige ist leitender Arzt für Innere Medizin am Universitätsspital Basel. Jeden Morgen pendelt er mit dem ICE von Freiburg in die Schweiz wie andere mit dem Linienbus zur Arbeit. Seine Frau, seine drei kleinen Kinder und vor allem: die Schwiegereltern leben in Deutschland.
Deshalb stand es für Jens Eckstein nie zur Diskussion, nach Basel zu ziehen und einen Schweizer Pass zu beantragen. Warum auch? Für den Deutschen war Personenfreizügigkeit nie eine abstrakte juristische Klausel aus dem EU-Vertragswerk, sondern selbstverständlicher Alltag. Bis zur Abstimmung am 9. Februar, bei der die Schweizer mit einer hauchdünnen Mehrheit die Beschränkung der Einwanderung beschlossen.
Jens Eckstein:"Da begann das dann das erste Mal, dass man sich überlegt so: Moment, wer ist jetzt Schweizer und wer nicht? Und das war für mich ein ganz unangenehmes Gefühl,weil mir das sehr fremd ist."
In seinem Team, unter den Kollegen, erzählt Jens Eckstein, hatte der Pass nie eine Rolle gespielt. Kein Wunder: Am Unispital Basel arbeiten Menschen aus über 75 Nationen, 45 Prozent der Mitarbeiter sind Ausländer. Also fast die Hälfte. Unter den Ärzten liegt der Anteil sogar bei 52 Prozent. Viele fragen sich jetzt, ob sie hier überhaupt willkommen sind – ja, ob ihre Stellen in Zukunft mit Schweizern besetzt werden müssen.
"Das ist tatsächlich was, wo sich Leute, die hier sehr gut im Team integriert sind, sich plötzlich Gedanken machen: ´Ich bin mal gespannt, was als nächstes kommt.` ´Und vielleicht werden unsere Renten jetzt umverteilt.` Das ist ja nicht so ein Stimmungsbild, was es immer wieder mal gibt. Sondern das ist eine Volksabstimmung – und die zählt. Das kam von einigen Kollegen, und da habe ich einfach gemerkt, dass es sie beunruhigt."
Auch viele Schweizer schockiert vom Ergebnis
Auch Jens Eckstein fragte sich insgeheim in der Kantine, im Aufzug, ob er sich vielleicht getäuscht hatte in seinen Kollegen. Rein prozentual musste ja jeder Zweite bei der Abstimmung zur Begrenzung der Zuwanderung mit Ja gestimmt haben – auch wenn der Kanton Basel-Stadt knapp unter den fünfzig Prozent lag. Umso wichtiger war es für ihn zu erfahren, erzählt er, dass auch viele Schweizer selbst schockiert waren vom Ergebnis.
"Ich habe Schweizer Kollegen, die direkt auf mich zugekommen sind und eben gesagt haben, sie wissen gar nicht, wie sie sich ausdrücken sollen, sie schämen sich zum Teil. Es war sehr schön, dass dadurch eine Diskussion dann auch in Gang kam, und es nicht totgeschwiegen wurde."
Auch die Spitalleitung reagierte prompt und veröffentlichte eine Stellungnahme, in der sie ihre Wertschätzung für die ausländischen Ärzte und Pflegekräfte ausdrückte – ebenso wie ihre Sorge um den zukünftigen Personalbedarf. Wie das Unispital Basel sind viele Unternehmen in der Nordwestschweiz dringend auf Grenzgänger und Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen – vor allem in der Pharmaindustrie, im Hotel- und Gastgewerbe, in der Forschung und im Gesundheitswesen. Wenn deren Zahl in Zukunft begrenzt werden muss, befürchten Personalchefs, steht den Firmen ein Kampf um die benötigten Arbeitskräfte bevor.
Schon jetzt liegen zahlreiche Vorschläge auf dem Tisch, wie sich die Kontingente – also eine jeweils festgelegte Anzahl ausländischer Arbeitskräfte – aufteilen ließen: Nach Regionen, nach Branchen, nach Wertschöpfung oder – am konsequentesten, aber juristisch nicht haltbar – nach Abstimmungsergebnis. Der Arbeitgeberverband Basel fordert, die Zuweisung der Kontingente in jedem Fall den einzelnen Kantonen zu überlassen. Im Foyer des Arbeitgeberverbands putzt eine Frau aus dem Kosovo die Glasscheiben vor dem Aufzug. Seit 20 Jahren lebt sie mit ihrem Mann und den drei Töchtern in der Schweiz, einen Pass hat sie nicht. Nie gebraucht. Bisher. Jetzt hat sie einen beantragt.
Mehmet Aldumnia:"Ich habe keine Zeit. Kinder sind klein. Ich habe gehabt andere Probleme. Aber jetzt, wir haben schon erklärt mit meinem Mann und Kindern. Wir mussten die Papiere für Schweizer Pass in Polizei gehen und nehmen die Formulare. Aber ich weiß nicht, geht das lange Zeit. Zwei Jahre oder so."
Angelockt durch die prosperierende Wirtschaft
Seit im Jahr 2007 der freie Personenverkehr innerhalb der EU in Kraft trat, kamen jedes Jahr geschätzt 80.000 Zuwanderer in die Schweiz – angelockt durch die prosperierende Wirtschaft. Die ausländischen Arbeitskräfte wiederum trugen maßgeblich zum Aufschwung bei, darin sind sich die Ökonomen weitgehend einig. Nach dem Volksentscheid ist der Bund in Bern jedoch gezwungen, innerhalb von drei Jahren eine Grenze für die Einwanderung festzulegen, die weitaus niedriger liegt als in den vergangenen Jahren.
Bereits jetzt befürchten kleine und mittlere Unternehmen, dass sie das Nachsehen haben werden gegenüber den großen Konzernen, die Druck machen können bei den Behörden. Seit der Abstimmung steht das Telefon deshalb nicht mehr still beim Arbeitgeberverband Basel. Barbara Gutzwiller, dessen Präsidentin, versucht zu vermitteln.
Barbara Gutzwiller: "Es darf nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden. Aber der Mangel, den wir in erster Linie zu spüren bekommen, ist der Mangel an Fachkräften. Das können aber auch Fachkräfte sein, die nicht akademische Abschlüsse haben. Ich plädiere einfach dafür – weder in den Branchen noch in den Regionen – das eine gegen das andere auszuspielen."
Was Barbara Gutzwiller aber auch zugibt: Egal welche Regelung in Kraft tritt – irgendwo wird gekürzt werden müssen. Entscheidet man sich also für weniger Erntehelfer und mehr Altenpfleger? Oder besser für weniger Ärzte, dafür aber mehr Forscher? Die Initiative gegen Masseneinwanderung hatte die Beantwortung dieser Fragen, ebenso wie konkrete Zahlen zur Höhe der Kontingente, lieber offen gelassen. Für Fachkräfte aus Dritt- sprich: Nicht-EU-Staaten gilt die Kontingentregelung bereits jetzt. Ließe sich dieses System also nicht einfach auf die EU-Zuwanderer übertragen?
Barbara Gutzwiller: "Theoretisch kein Problem, praktisch schon. Weil die bürokratischen Hürden hoch sind. Das schafft für alle Firmen, allen voran die mittleren und kleinen Betriebe – eine riesige administrative Belastung."
Papierkrieg auch für Arbeitskräfte aus der EU
Charlotte Wirthlin kommt mit einem Stapel Briefe aus dem Büro und legt sie auf den Tresen. Seit 21 Jahren ist sie Chefin vom Platanenhof, einem gutbürgerlichen Lokal mit Biergarten auf der Kleinbasler Rheinseite. Viele Ausländer leben hier im Viertel, das Dreiländereck ist nicht weit, unter den Stammgästen sind viele Grenzgänger aus dem benachbarten Elsass und Südbaden. Auch zwei der sieben Angestellten im Platanenhof haben keinen Schweizer Pass. Dazu kommt demnächst noch eine Asylbewerberin aus Eritrea. Monatelang hatte die Wirtin mit den Behörden wegen einer Arbeitsbewilligung für die junge Frau verhandelt, Formular nach Formular ausgefüllt. Und jetzt soll dieser Papierkrieg auch für Arbeitskräfte aus der EU wieder losgehen. Charlotte Wirthlin kann es noch nicht so recht fassen.
"Ich kann es mir nicht vorstellen, wie das gehen soll. Wie will man diese Kontingente gerecht verteilen? Das ist der falsche Weg, finde ich. Also Verlierer werden sicher Leute sein aus dem ganz tiefen Lohnniveau."
Bekäme im Platanenhof jemand seine Arbeitsbewilligung nicht verlängert, würde sie sich schon auf die Hinterbeine stellen, sagt Charlotte Wirthlin und lacht heiser. Dann wird sie wieder ernst.
"Ja, ich schäme mich schon ein bisschen. Obwohl ich ja weiss, das es eigentlich direkt nichts mit mir zu tun hat."
Schließlich hat sie beim Volksentscheid mit Nein gestimmt. Das weiss auch ihr Küchenchef. Den Deutschen hat das Ergebnis trotzdem nicht kalt gelassen. Er wischt sein Messer ab, steckt das Geschirrtuch wieder in die Schürze und stützt sich leicht genervt auf die Arbeitsfläche.
Matthias Haller: "Ich war dann schon schockiert. Wir haben es dann natürlich hier diskutiert am Dienstag. Und natürlich haben hier in der Gegend die meisten dagegen gestimmt, weil jeder hat Kontakt zu Ausländern. Man weiss hier, wie wichtig sie sind, welche Plätze sie besetzen. Die werden gebraucht hier. Mit kleinen Ausnahmen habe ich noch nie einen Spüler gehabt, der einen Schweizer Pass hatte. Oder eine Küchenhilfe. Das macht kein Schweizer."
Landbevölkerung gegen mehr Zuwanderung
Matthias Haller ist 47. Zusammen mit seinem Schweizer Lehrling macht er heute Würste: Der eine hält den Darm, der andere schiebt das Fleisch durch die Wurstfüllmaschine. Die beiden kommen gut miteinander aus. Dass ein Inländervorrang, wie die SVP ihn fordert, ihm bei einer Stellenbewerbung schaden könnte, befürchtet der Koch nicht. Seit fast zehn Jahren lebt und arbeitet Matthias Haller jetzt in der Schweiz. Allerdings würde er sich zweimal überlegen, noch mal eine Saisonstelle auf dem Land anzunehmen, wo die Mehrheit der Bevölkerung gegen mehr Zuwanderung – also letztlich auch gegen ihn – gestimmt hat. Selbst hier in Basel erwischt er sich manchmal beim Abzählen:
"Wenn man dann irgendwo in der Runde sitzt oder im Bus, und dann zählt man eins, zwei – eins, zwei – okay fünfzig Prozent: Du magst mich nicht. Oder Du magst mich nicht hierhaben. Vielleicht findest Du mich sympathisch – aber: Nimm meinen Arbeitsplatz nicht weg. Wenn das soweit kommt, dann denke ich: Okay, ich konnte Euch auch nicht leiden. Tschüss. Hier habt Ihr Eure Arbeitserlaubnis und Euren Führerschein wieder."
Der Koch Matthias Haller wäre nicht der erste Ausländer, der jetzt seine Koffer packt. Ein deutscher Archäologiedozent an der ETH Zürich reichte nach der Abstimmung seine Kündigung ein und schlug den Schweizern vor, ein "Bauernbub aus Obwalden“ solle doch seinen Job übernehmen.
Thomas Gabriel kann die Frustration seines Kollegen nachvollziehen. Der Deutsche ist Leiter Forschung und Entwicklung am Departement Soziale Arbeit der ZHAW, also der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
"Man fragt sich, ob man nicht mehr gewollt ist. Oder ob man eigentlich nur geduldet wird. Ich habe einen Schweizer Sohn, deshalb würde ich nicht auf die Idee kommen, das Land zu wechseln. Ich glaube aber, dass es sehr viele Kolleginnen und Kollegen gibt, für die das einen Ausschlag gibt. Wo das eh auf der Kippe steht, weil sie überlegen, in ein anderes europäisches Land oder zurückzugehen, dass das Fass jetzt zum Überlaufen bringt."
Dass die Politik jetzt ernsthaft darüber nachdenkt, das Saisonnierstatut wieder einzuführen, hält Thomas Gabriel aber für vollkommen absurd. Man könne heute keine Hochqualifizierten mehr gewinnen, wenn man sie nur auf Zeit, und ohne ihre Familie, einreisen lässt.
Thomas Gabriel: "Wir haben Bewerbungen, wo der Vertrag schon in der Post war, die dann sehr verunsichert waren. Die dann gefragt haben: Was bedeutet es, wenn ich mit meiner Familie komme? Es sind ja nicht nur die Arbeitskräfte, da hängt ja auch ein familiäres Umfeld dran."
Kooperationen mit der EU stehen komplett in Frage
Bei einer Tasse Kaffee diskutiert Thomas Gabriel mit einer Schweizer Kollegin über die Zukunft der Forschungsprojekte. Die Verhandlungen mit der EU über ein 80-Milliarden-Euro-Programm mit dem Namen "Horizon 2020" zum Beispiel standen kurz vor dem Abschluss. Nach der Abstimmung stehen die Gelder und die Kooperationen komplett in Frage. Auch mehrere Erasmus-Partnerunis haben bereits Absagen geschickt. Die Arbeit der Forscherin und Dozentin Myriam Eser Davolio wird das stark verändern, trotzdem kann sie die Haltung der EU nachvollziehen.
"Weil es braucht klare Signale an die Schweiz, denke ich. Das müssen wir jetzt ausbaden, was wir uns da eingebrockt haben. Und es gibt immer Leute, die sagen: Die EU wird schon nicht alles aufkündigen. Aber die EU muss ja auch Zeichen schaffen, weil es ja auch andere Staaten gibt, die so ihre Extrawürste möchten. Und da muss sie schon klare Zeichen setzen, dass sie diesen Kurs nicht einfach tolerieren kann."
Bis sich die Politiker geeinigt haben, wie genau die Zuwanderungskontingente aussehen könnten, dürften noch Monate vergehen. Was dabei meist unter-schlagen wird, findet Myriam Eser, ist die Frage, ob eine Kontingentlösung überhaupt mit der Personenfreizügigkeit vereinbar wäre. Schließlich ist die Personenfreizügigkeit fest in den bilateralen Verträgen verankert, die die Schweiz mit der EU geschlossen hat. Und stünde die zur Diskussion, geriete eigentlich auch das komplette Vertragswerk ins Wanken.
Myriam Eser: "Es war ja schon bei der Minarett-Initiative die Frage: Kann man eigentlich über etwas abstimmen, was dann ja eigentlich völkerrechtswidrig ist? Und auch wieder eingeklagt werden kann. Und von daher die Frage: Wie will man jetzt diese Zuwanderung genau einschränken, ohne diese Verträge zu verletzen? Und was sind dann genau die Folgen davon? Die Umsetzung ist also sehr fragwürdig schlussendlich."
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