Zur Bedeutung von Büchern

"Ich glaube, dass das Buch ein Gegenstand für Liebhaber wird"

Jemand steht mit einem Buch in der Hand im Sonnenuntergang auf einem Feld.
Die Literatur war immer eine Angelegenheit einer Minderheit, sagt der Autor und Literaturkritiker Helmut Böttiger. © Priscilla Du Preez / Unsplash
Helmut Böttiger im Gespräch mit Frank Meyer · 23.01.2018
Die Rolle der Literatur und des Buchs ist gefährdet, meint der Autor und Literaturkritiker Helmut Böttiger. Er sieht eine Verlagerung von der Schrift- hin zur Bildkultur. Das Buch werde sich zu einem Liebhaber-Gegenstand entwickeln - und als Massenware verschwinden.
Frank Meyer: Die Zahl der Buchkäufer ist deutlich zurückgegangen in Deutschland, darüber haben wir gerade gesprochen. Heißt das nun auch, dass das alte Leitmedium Buch deutlich an Bedeutung verloren hat? Darüber wollen wir sprechen mit dem Kritiker Helmut Böttiger. Der hat sich in vielen Büchern und Artikeln mit dem literarischen Leben in Deutschland beschäftigt. Und wir wollen eigentlich sichergehen, dass wir hier nicht einer sentimentalischen Täuschung unterliegen, früher war alles besser, früher haben alle gelesen und so weiter. Gab es denn Zeiten, in denen Bücher tatsächlich mehr im Gespräch waren, in denen sie gesellschaftliche Debatten stärker bestimmt haben?
Helmut Böttiger: Bei der Frage denke ich immer daran, als ich mein Volontariat bei der "Stuttgarter Zeitung" machte Mitte der 80er-Jahre. Da war Frankfurter Buchmesse, und der Feuilletonchef schickte mich zu den Ausstellern, den Belletristikverlagen, wie es denn aussieht, wie die Verkäufe so sind. Und die sagten, ach, das ist ganz schlecht. Die Leute lesen einfach nicht mehr, Umsätze brechen rapide ein. Also, das Klagen war eigentlich schon immer da, allerdings mal auf höherem, mal auf weniger hohem Niveau.
Und ich glaube, unsere Vorstellung ist sehr stark von den 60er- und 70er-Jahren geprägt, als das Buch wirklich ein Massenpräger war. Und da haben die Verlage auch nicht geklagt, weil sie der Umsätze gar nicht mehr Herr wurden. Also, in den 70er-Jahren differenzierte sich die Gesellschaft aus, es gab großen Diskussionsbedarf, und das fand eben auf dem Buch- und Zeitschriftenmarkt statt.
Der Schriftsteller und Literaturkritiker Helmut Böttiger
Der Schriftsteller und Literaturkritiker Helmut Böttiger© picture alliance / dpa
Wenn man sich das heute anschaut, da gab es beim Verlag Klaus Wagenbach in den Siebzigern ein Lesebuch "Tintenfisch" über Gegenwartsliteratur, eine Anthologie neuester Texte. Die hatten Auflagen von über 100.000 Exemplaren, waren ganz klein gedruckt, leserunfreundlich bis dort hinaus. Aber das war ein Bedürfnis. Und das ist natürlich ein Maßstab, der dann verloren gegangen ist, weil damals fand viel auf dem Buch- und Zeitschriftensektor statt, was heute im Internet stattfindet.
Und der Paradigmenwechsel war dann, glaube ich, im Lauf der 80er-Jahre, als man merkte, dass sich viel auch hin zur Popkultur verlagert, dass plötzlich Pop sehr wichtig wurde. So Autoren wie Thomas Meinecke, Reinald Goetz sind dann auch mehr auf die Musik eingeschwenkt. Thomas Meinecke, der auch als Schriftsteller sehr bekannt war, "Mode und Verzweiflung", eine Zeitschriftenkolumne. Und er machte dann eine Musikgruppe und schrieb für diese Musikgruppe FSK Texte. Ich glaube, dieser Wechsel ist dann schon wichtig.

"Wir können mit dem Buch so etwas wie eine Wellness-Oase für die Seele bieten", meint Alexander Skipis, Geschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im "Lesart"-Interview mit Frank Meyer im Deutschlandfunk Kultur. Gerade in Zeiten enormer Hektik sehnten sich Menschen nach einer solchen Auszeit.

Meyer: Aber was Sie gerade gesagt haben, dass sich die Debatte ins Internet verlagert habe, das kann ich zum Teil nachvollziehen, natürlich, Gedankenaustausch, Twitter und so weiter, das beschäftigte uns ja alle in diesen Tagen. Aber wenn man sich anguckt, was ein Buch leisten kann, eine vertiefte Auseinandersetzung mit einem Thema, wenn es ein Sachbuch ist oder mit einer Lebensgeschichte bei einem Roman, das kann doch der hektische Austausch im Internet eigentlich überhaupt nicht ersetzen.
Böttiger: Ja, das ist tatsächlich ein Wechsel, der im Moment stattfindet, da bin ich auch überzeugt davon. Ich glaube, dass der Stellenwert von Literatur auch im gesellschaftlichen Diskurs sich sehr stark verändert hat. Da fällt mir ein Beispiel ein aus den 50er-Jahren, wo die Frau von Arno Schmidt in ihrem Tagebuch festhält, wie viele Bücher Arno Schmidt verkauft hat in den 50er-Jahren, wo man denkt, das war die große Zeit der Hochkultur. Das erste Buch von Arno Schmidt, "Leviathan", war Mitte der 50er-Jahre, sechs Jahre später, 115-mal verkauft worden.
Meyer: Also so gut wie gar nicht.
Böttiger: So gut wie gar nicht. Und sein zweites Buch genauso, 200 Exemplare. Dennoch hatte Arno Schmidt in den 50er-Jahren eine Titelgeschichte in dem Magazin "Der Spiegel". Das heißt, es wurde kaum gekauft. Er war aber ein wichtiger Autor, galt als solcher, und das war gesellschaftlich wichtig. Er war so bekannt, dass er wirklich auch in der Öffentlichkeit groß vorgestellt wurde.
Und das ist das, was sich heute grundlegend geändert hat. Wenn man einen vergleichbaren Autor heute heranzieht wie Reinhard Jirgl, der oft mit Arno Schmidt verglichen wird – in seinen bestverkauften Büchern kommt er über 10.000 Exemplare. Aber er würde nie mehr eine Titelgeschichte in einem Wochenmagazin bekommen. Das ist, glaube ich, der Unterschied, dass Literatur gesellschaftlich anders verhandelt wird und dass andere Medien an die Stelle getreten sind.

Selbstverständigung über Bücher gibt es noch

Meyer: Aber vielleicht ist es ja auch ein Spezifikum des deutschen Marktes. Wenn ich jetzt auf die letzten Jahre zurückschaue, es gab ja Bücher, die gesellschaftlich interessant waren, die viel besprochen wurden – vielleicht ja auch nur in Kreisen, in denen wir uns bewegen als literaturinteressierte Menschen. Wenn ich jetzt an die französische Literatur denke, an Autoren wie Didier Eribon oder Édouard Louis, die Bücher geschrieben haben über ihre Herkunft, über die politische Verfasstheit der französischen Gesellschaft, vielleicht ist es ja so, dass solche Bücher bei uns fehlen?
Böttiger: Das glaube ich nicht. Die Literatur in Deutschland ist auf keinen Fall schlechter geworden. Die Autoren sind auch nicht schlechter geworden. Die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Auch Frankreich und Deutschland kann man nicht direkt vergleichen, weil Frankreich hat gerade eine tiefgehende gesellschaftliche Krise. Und auch Didier Eribon ist ja in Deutschland sehr stark rezipiert und diskutiert worden. Es gibt hier auch Autoren, sagen wir mal Juli Zeh, über deren literarischen Stellenwert ich jetzt nicht sprechen möchte, das ist mehr ein gesellschaftliches Phänomen. Aber das ist Diskussionsstoff.
Oder wenn jetzt ein neuer Roman von Daniel Kehlmann erscheint, bin ich mir ziemlich sicher, dass da auch drüber diskutiert werden muss, wie verhält sich unsere heutige Situation zu der Zeit des 30-jährigen Krieges? Gibt es da Parallelen? Ich glaube, dass es schon eine Selbstverständigung der lesenden gebildeten Schichten gibt, die sich immer noch über Bücher vollzieht. Nur insgesamt ist die Rolle der Literatur, des Buchs, natürlich gefährdet.

"Die Literatur war immer eine Angelegenheit einer Minderheit"

Meyer: Und da gibt es auch kein Zurück mehr? Wir stehen an einer Epochenschwelle, denken Sie?
Böttiger: Eine Verlagerung von der Schrift- zur Bildkultur ist, glaube ich, unverkennbar, da bin ich schon überzeugt davon. Man sieht das an dem Studium der Literaturwissenschaften, man sieht es in der Schule am Deutschunterricht. Es ist schon eine Herausforderung, ein ganzes Buch zu lesen. Ich weiß, dass in den 80er-Jahren in der Pädagogik plötzlich das Wort "Ganzschrift" auftauchte. Die Schüler könnten keine Ganzschriften mehr lesen.
Meyer: Und das ist ein Buch.
Böttiger: Das was ein neu erfundenes Wort für das Buch, ein abgeschlossener Text. Und das war, glaube ich, schon der Anfang einer wie ich finde durchaus auch verhängnisvollen Entwicklung. Aber das ist natürlich nicht mehr zurückzudrehen. Ich glaube, dass das Buch eher so etwas wird wie die bildende Kunst, also ein Gegenstand für Liebhaber, als Distinktionsgewinn. Und vielleicht wird die Literatur, die immer eine Angelegenheit einer Minderheit war, einfach wieder in ihr Normalmaß zurückfallen.
Ich glaube, wie in den 50er-, 60er-Jahren, die Literatur an sich betrifft immer nur einen bestimmten Teil der Bevölkerung, und dieser Teil wird sich nicht verändern. Aber der Massenträger, das Buch als Massenware, das wird verschwinden, und der Massenschund findet eben woanders statt, und nicht mehr im Buch.
Meyer: Das sagt der Literaturkritiker Helmut Böttiger zum Bedeutungswandel des Buches in unseren Tagen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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