Zum Tod des Philosophen Jean-Luc Nancy

Der politische Dekonstruktivist

06:28 Minuten
Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy schaut aus einem Fenster.
Jean-Luc Nancy untersuchte mit wachem Philosophen-Blick das Zeitgeschehen, zuletzt auch die Coronapandemie. © picture alliance / Abacapress / Nicolas Roses
René Aguigah im Gespräch mit Andrea Gerk |
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Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy ist im Alter von 81 Jahren gestorben. Nancy folgte Derridas Methode der Dekonstruktion und hat diese auf die Politik übertragen, erklärt Kulturjournalist René Aguigah. Er habe versucht, Gegensätze aufzulösen.
Er war nicht so prominent wie seine Kollegen Michel Foucault und Jacques Derrida, dennoch gilt der am 23. August im Alter von 81 Jahren verstorbene Jean-Luc Nancy als einer der einflussreichsten Denker Frankreichs. Der zehn Jahre ältere Derrida (1930 – 2004), Begründer der Dekonstruktion, war sein Lehrer, Arbeitspartner und Freund.
Praktische Fragen der Philosophie, Politik und des allgemeinen Zeitgeschehens bestimmten seine Arbeit. Er gab deshalb der Dekonstruktion Derridaschen Zuschnitts eine etwas andere Richtung, wie der Kulturjournalist René Aguigah erläutert:
"Jean-Luc Nancy hat schon sehr früh begonnen, die Dekonstruktion mit einem politischen Akzent zu versehen. Er hat politisch relevante Texte gelesen und einfach versucht, das Denken der Dekonstruktion aufs Feld der Politik zu ziehen."
Bei Nancy sei es weniger um die Frage nach Idealen oder Modellen gegangen, sondern darum, zu ergründen, "was ist denn das Leben, das wir erfahren" – so formulierte es der Philosoph selbst. So waren unter anderem die religiösen Bewegungen der Neuzeit und die Auswirkungen der Globalisierung für Nancy ein Arbeitsfeld.

Gegensätze auflösen

Die Dekonstruktion neu zu denken, hieß für ihn vor allem auch, Gegensätze aufzulösen. Das lasse sich an drei wichtigen Themen in seiner Arbeit gut nachvollziehen: Gemeinschaft, Körper und Religion.
"Er hat versucht, das Thema der Gemeinschaft neu zu denken, ohne dass es irgendetwas mit Faschismus zu tun hat, also ohne dass es dort einen Rückfall geben könnte", sagt Aguigah.
Auch mit dem Körper habe er sich ohne "alte Leib-Seele-Gegensätze" beschäftigt. Und in seinem dritten großen Thema, Religion und Glaube, habe er zwei Begriffe zusammengedacht, die scheinbar einen nicht überbrückbaren Gegensatz darstellen: Christentum und Atheismus.

Dem Virus Positives abgewinnen

Zuletzt hatte Nancy, der jahrzehntelang an der Marc-Bloch-Universität in Straßburg lehrte und schwer herzkrank war, sich auch mit der Coronapandemie auseinandergesetzt und veröffentlichte als eines seiner letzten Bücher "Un trop humain virus" (Ein allzu menschliches Virus).
Darin gewinnt Nancy dem Virus auch positive Seiten ab: Als eine "virale Lupe" habe die Pandemie zwar unsere Widersprüche und Grenzen aufgezeigt, sich als reines Produkt der "techno-kapitalistischen Globalisierung" erwiesen, so Nancy.
Aber gleichzeitig habe das Virus trotz Abstandsregeln eine Gemeinschaft zwischen den Menschen erzeugt.
(mkn)

Bücher von Jean-Luc Nancy in deutscher Übersetzung (kleine Auswahl):

"Sexistenz"
Diaphanes, 2019, 160 Seiten

"Die verleugnete Gemeinschaft"
Diaphanes, 2016, 184 Seiten

"Ausdehnung der Seele: Texte zu Körper, Kunst und Tanz"
Diaphanes, 2015, 112 Seiten

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