Zum Begriff "Christenverfolgung"

"Meistens werden nicht allein die Christen verfolgt"

Demonstranten protestieren in Kalkutta mit Plakaten gegen die Ermordung des australischen Missionars Graham Stewart Staines und seiner Söhne Philip (10) und Timothy (6) durch Hindu-Fundamentalisten.
Demonstranten protestieren in Kalkutta gegen die Ermordung des australischen Missionars Graham Stewart Staines und seiner Söhne durch Hindu-Fundamentalisten. © dpa / picture alliance / epa AFP Datta
Daniel Legutke im Gespräch mit Kirtsen Dietrich · 13.09.2015
Das Thema Christenverfolgung ist in den vergangenen Jahren wieder in den politischen Blickpunkt gerutscht. Daniel Legutke, Referent für Menschenrechte bei der katholischen Organisation Justitia et Pax, erklärt im Interview, warum er den Begriff problematisch findet - und weshalb man besser über Menschenrechte reden sollte.
Kirsten Dietrich: Seit einigen Jahren steht ein Thema auf der politischen Agenda, das vorher nur in den Kirchen behandelt wurde, und auch da nicht im Mainstream, sondern eher am frommen Rand. Das Thema: Christenverfolgung. Weltweit werden Christen Opfer von Diskriminierung und Unterdrückung, kommen im schlimmsten Fall zu Tode – das ist eine Tatsache. Wie diese Tatsache zu beurteilen ist und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, da gehen die Meinungen auseinander. Welche Rolle spielt die Religion wirklich? Werden gezielt Christen Opfer – oder einfach alle, die sich leicht als Minderheiten identifizieren lassen? Und wie vermeidet man, vom Einsatz für verfolgte Christen gleich zu pauschaler Ablehnung des Islam zu gelangen? Über diese Fragen habe ich mit Daniel Legutke gesprochen. Er ist Referent für Menschenrechte bei der Organisation Justitia et Pax, also: Gerechtigkeit und Frieden, einer Organisation, die in der katholischen Kirche nachdenkt und berät über internationale Verantwortung. Daniel Legutke hat sich viel und grundlegend beschäftigt mit Fragen von Religionsfreiheit und Menschenrechten, und ich habe ihn gefragt, was er hält von markanten Aussagen wie der, dass Christen die weltweit am meisten verfolgte Religion seien.
Daniel Legutke: Das hören wir derzeit häufiger. Ich lasse mich ungern oder wir bei Justitia et Pax lassen uns ungern auf eine Frage des Rankings ein, welche Religion ist diejenige, die am meisten verfolgt wird. Es mag so sein, dass Christen die Angehörigen der Religion sind, die am stärksten unter Diskriminierung, Bedrängung und auch Verfolgung zu leiden haben, das lässt sich aber wenn, dann vor allem aus der großen Zahl von Christen her ableiten, wenn überhaupt. Ich mag keine Zählung aufzumachen, alle Zählungen sind immer sehr hohe Schätzungen, es werden Dinge zusammengeworfen, die man besser nicht zusammenwirft, also auf Zahlen, von wie viel Christen im Moment verfolgt würden, lassen wir uns nicht ein. Ich will nur auch darauf hinweisen – die Bahai zum Beispiel sind eine Religionsgruppe, die fast in allen Ländern, in denen sie auftritt, stark bedrängt werden. Also prozentual im Verhältnis der Zahl der Mitglieder zu den Mitgliedern, die bedrängt, diskriminiert und verfolgt werden, sind die Bahai sicher eine Gruppe, die nicht so bekannt ist, nicht so im Blick der Öffentlichkeit, die viel massiver noch als Christen unter Verfolgung und Bedrängung vor allem leidet.
"Dieser Begriff hilft uns oft nicht weiter"
Dietrich: Sie beschäftigen sich mit Religionsfreiheit und Menschenrechten, Sie arbeiten für die katholische Kirche, für die Kommission Justitia et Pax, und trotzdem sind Sie unglücklich mit dem Begriff Christenverfolgung oder wenn über Christenverfolgung geredet wird – warum eigentlich?
Legutke: Weil dieser Begriff uns oft in der Sache nicht weiterhilft. Und was muss unsere Sache sein – ich meine, wir sollten daran arbeiten, zu sehen oder daran mitzuwirken, dass die Situation für Menschen, die ihren Glauben ausüben, ihren Glauben leben wollen, besser wird. Dafür hilft uns der Begriff Christenverfolgung nicht. Er hilft uns deswegen nicht, weil damit sehr, sehr unterschiedliche Situationen in einen Topf geworfen werden. Bei Christenverfolgung, da scheint immer noch natürlich uns irgendwo im Hinterkopf das Römische Reich auf, mit den Arenen, den Gladiatorenkämpfen, wo von staatlicher Seite gezielt Christen verfolgt wurden. Ich finde es richtig, wenn wir den Begriff tatsächlich auf solche sehr spezifischen Situationen – staatliche Verfolgung – beschränken würden. Sowas findet man vielleicht noch in Korea, wahrscheinlich sogar. Nordkorea natürlich, nicht Südkorea! Da geht es darum, tatsächlich Christen um des Christseins Willen, um ihres Zugehörens zu einer Religion Willen, zu verfolgen. Es mag sein, dass das auch für die Gebiete, die vom IS beherrscht werden, inzwischen zutrifft. Ich bin deswegen vorsichtig, weil ich schon glaube, dass es, um wirklich eine Verfolgungssituation herzustellen, staatliche Strukturen braucht, die also gezielt nach Christen sucht.
Nun können wir sagen, dass sicher der IS staatliche Funktionen wahrnimmt, insofern würde ich sagen, ja, auch da lässt sich fragen – müsste man aber wirklich genau sehen, ob der Begriff Christenverfolgung da passend ist. Wahrscheinlich schon, also das will ich überhaupt nicht kleinreden. Aber viele andere Situationen, die damit beschrieben werden, die sind durch den Begriff nicht zu fassen. Wenn wir zum Beispiel nach Nigeria schauen – dafür wird der ja auch gerne verwendet –, dann sagen uns aber die katholischen Bischöfe, redet doch nicht Christenverfolgung, wir müssen doch sehen, dass da ein ganzes Set von Ursachen zusammenkommt, und an diesen Ursachen müssen wir arbeiten, und darum geht es uns auch. Wir würden vom Recht auf Religionsfreiheit reden, das verletzt wird, das massiv verletzt wird, und wenn wir die Rechtskategorien in den Blick nehmen, dann finden wir auch die Instrumente, finde ich, viel schneller, mit denen wir eine rechtlich bessere Situation herstellen können. Dann geht es nämlich um Rechtsdurchsetzung, dann geht es um gute Regierungsführung, dann geht es um Teilhabe, politische Partizipation – das sind die Fragen, die uns interessieren sollten. Deswegen reden wir vom Recht auf Religionsfreiheit, weil damit mit diesem – unschönes Wort – Instrumentenkasten der Menschenrechte dann viel schneller gearbeitet werden kann als wenn wir Dinge zunächst mal skandalisieren.
"Ich halte das durchaus für eine Menschenrechtsverletzung"
Dietrich: Trotzdem ist es aber ja doch so, dass zum Beispiel aus Indien berichtet wird, dass Menschen gezwungen werden, zu konvertieren oder dass in Pakistan Christen dort verfolgt werden mit der Behauptung, sie seien irgendwie blasphemisch gegenüber dem Islam gewesen. Kann man das wirklich so einfach auflösen als allgemeine Menschenrechtsverletzung?
Legutke: Ich löse das nicht auf. Ich halte das durchaus für eine Menschenrechtsverletzung, aber damit ist noch gar nichts aufgelöst, sondern damit ist das Problem, wie ich meine, genauer beschrieben als mit dem doch sehr vagen Begriff der Christenverfolgung. Auch in Indien, da sagen uns Christen, ja, wir werden bedrängt, wir werden diskriminiert, das wohl, aber in diesem riesen Land Indien ist die Situation von Region zu Region höchst unterschiedlich. Also jetzt zu sagen, in Indien gibt es Christenverfolgung, weil es Ausschreitungen gegen Christen gegeben hat und dann irgendwie zu sagen, in Indien gibt es so und so viele Millionen Christen, deswegen rechnen wir daraus, extrapolieren wir daraus Zahlen verfolgter Christen – das ist unseriös, das ist im höchsten Maße unseriös und wird den Situationen nicht gerecht. Wenn ich die Geltung und die Gültigkeit von Menschenrechten einfordere, dann löse ich nichts auf, sondern dann schaue ich genauer hin, und dann werden wir sehen, dass dort, wo Menschen um ihrer Religion Willen diskriminiert werden, es auch schlimm um andere Menschenrechte steht.
Ich kann mir geradezu keinen Fall vorstellen, wo man sagen kann, Menschenrechtssituation sehr gut bis auf religiöse Bedrängung, religiöse Diskriminierung. Das taucht in der Realität nicht auf, sondern wir kriegen dann in den Blick, was an dieser jeweiligen Situation zu verändern ist, und dann sehen wir auch viel eher, wie ist die Richtung, in die wir arbeiten müssen. Das ist mir wichtig. Es geht nicht darum, irgendetwas zu verharmlosen, aber es geht darum, einen genauen Blick dafür zu bekommen, wie Situationen im Einzelnen, im Konkreten sich gestalten, was die Ursachen sind für Gewalt gegen Christen, die sich ja zumeist auch immer gegen Angehörige anderer Religionsgruppen richtet. Es ist in der Regel nicht so, und das trifft auch für die Gebiete des IS zu, dass allein die Christen um des Christseins Willen verfolgt werden. Nein, alles, was als deviant erfahren wird, was als abweichend gesehen wird von dem, was der IS als seine reine Lehre propagiert, alle diese Menschen werden verfolgt, nicht nur Christen. Deswegen ist es ja kein Wunder, dass auch so viele Muslime aus Syrien hierher kommen.
"Es muss eine politische Lösung geben"
Dietrich: Wie geht man dann damit um, wenn man als Vertreter der Kirche dann da steht und sich sagt, Menschen kommen, weil sie verfolgt werden unter anderem wegen ihrer Religion? Die Kirchen in Syrien sagen, eigentlich wäre es natürlich schön, wir könnten weiter in Syrien sein, trotzdem gehen jetzt alle. Wir verhält man sich da, positionieren Sie sich da als Vertreter von Justitia et Pax?
Legutke: Es ist klar, dass es eine politische Lösung für diesen Konflikt geben muss, und wir sind lange sehr zurückhaltend gewesen mit unserem Plädoyer dafür, auch Christen zu ermöglichen, hierher zu kommen, weil uns die Ortskirche gesagt hat, ja, ihr könnt doch jetzt nicht uns die letzten Leute noch abwerben, die letzten Christen und damit eben dazu beitragen, dass das Christentum, dieses sehr alte Christentum, in dieser Region ausstirbt. Die Situation hat sich mit dem IS dramatisch gewandelt, das ist überhaupt keine Frage. Jetzt geht es nicht mehr darum, sich die Frage zu stellen, können wir sozusagen mit dazu beitragen, dass die Ortskirche dort ausblutet – nein, wir müssen die Menschen retten, das ist jetzt das zentrale Anliegen. Wie sich die Situation später gestalten wird, wenn der IS zurückgedrängt ist, das vermag ich jetzt überhaupt nicht zu sagen, das muss die Zeit erweisen. Es wird wahrscheinlich so sein, dass auch christliche Syrer, die hierher kommen, hier bleiben. Was das für die Region heißt, es wird sicher über kurz oder lang, auch wenn sich die Situation mal befriedet haben wird, deutlich, deutlich weniger Christen geben in den Regionen als es sie vorher gab. Das ist natürlich zutiefst tragisch, ja.
Dietrich: Wenn wir mal über Syrien hinausgucken – welche Rolle spielt denn die Religion oder religiöse Verfolgung bei den aktuellen Flüchtlingsbewegungen, die da gerade in Europa stattfinden?
Legutke: Naja, wenn ich gesagt habe, dass religiöse Diskriminierung ja oft mit anderen Menschenrechtsverletzungen einhergeht, dann wird es vielleicht deutlicher, dass es natürlich massive Versäumnisse sind von Regierungen in den einzelnen Ländern – das muss man, glaube ich, so benennen –, die es nicht geschafft haben, tatsächlich Partizipation zu ermöglichen für breite Bevölkerungsschichten und wirklich auch Minderheiten einzubeziehen, religiöse Minderheiten, ethnische Minderheiten, in die Gestaltung des öffentlichen Lebens vor Ort. Wenn ich das so kryptisch sage, dann gilt das sicher für Nigeria, wo es doch oft so gewesen ist und immer wieder so gewesen ist, dass die dominierende Gruppe, wie auch immer sie sich definiert, die Macht für sich reklamiert und andere ausgeschlossen hat von der Teilhabe an der Macht. Wenn sich solche Gruppengrenzen entlang religiöser Zugehörigkeit definieren, dann entsteht daraus ein massiver politischer Sprengstoff, ein gesellschaftlicher Sprengstoff, der dann, wenn diese religiösen Grenzen oder religiösen Abgrenzungen, Gewicht bekommen, natürlich noch genutzt werden kann, um diese Konflikte massiv zu verschärfen. Das ist wohl so. Gleichzeitig sehen wir aber auch in der Gegenbewegung, dass es religiöse Führer immer wieder versuchen – zum Beispiel in der zentralafrikanischen Republik, wir hatten jetzt gerade den Aachener Friedenspreis für einen Imam und einen Bischof –, dass religiöse Führer immer wieder versuchen, vermittelnd zu wirken und zum Ausgleich der Religionen, zum Miteinander der Religionen beizutragen. Das bringt mich zu einem anderen Punkt, der mir selber wichtig ist: Wir müssen uns, meine ich, davor hüten, Religion als so oder so zu definieren...
"Wir sehen auch eine Gegenbewegung"
Dietrich: ...also der Islam ist so, das Christentum ist so und alle sind dann irgendwas.
Legutke: Genau. Und alle sind dann so. Das zu generalisieren und das zu essentialisieren in Bemerkungen wie, der Islam sei nicht fähig zu Demokratie zum Beispiel, das hören wir bisweilen ja. Ich glaube, wir machen dann den Fehler, einige Ausprägungen des Islam – massive, gewalttätige Ausprägungen des Islam, die es auch im Christentum gibt, die es gab, aber die es auch immer noch gibt – für den Islam schlechthin zu halten. Das wäre ungefähr so absurd, wie wenn man sagt, die Anti-Balaka oder die Lord's Resistance Army in Uganda, das sei das Christentum. Auf die Idee käme hier niemand, aber gleichwohl hört man immer wieder, ja, ja, der IS, das sei der Islam und der Islam sei so. Das ist absurd, das ist wirklich absurd, und es schadet vor allem den Leuten, die sich um ein anderes Islambild bemühen. Da bin ich dann wieder bei den Menschenrechten: Wir müssen sehen, dass wir Menschenrechtslagen insgesamt verbessern und zur Stabilität beizutragen.
Dietrich: Wie kommt es eigentlich, dass das Thema Christenverfolgung gerade so auf die politische Bühne drängt? Bisher oder vor zehn Jahren noch hatte ich so den Eindruck, das ist ein Thema, das vielleicht eher fromme Randgruppen in den Kirchen selber beschäftigt, und jetzt so seit zehn Jahren ungefähr drängt das auf die Bühne, wird politisch, wird sogar Thema im Bundestag zum Beispiel. Wie kommt das?
Legutke: Naja, ich glaube, das liegt daran, dass wir anerkennen oder dass die Gesellschaft anerkannt hat, dass das Thema Religion mit fortschreitender Säkularisierung in unserem Land sich nicht erledigt hat, sondern Religion, religiöse Überzeugung für viele Menschen nach wie vor ein ganz, ganz wichtiger Bestandteil ihrer Identität ist. Wir finden es daher richtig, dass auch die Politik das Thema Religionsfreiheit quasi wiederentdeckt hat oder unsere Politik da stärker sich mit befasst und es wahrnimmt als ein Thema, was für viele Menschen wichtig ist.
Dietrich: Sie würden sich nur ein anderes Label wünschen, also dass es nicht unter dem Thema, unter dem Begriff Christenverfolgung läuft.
Legutke: Der Bundestag wird einen Bericht zur Religionsfreiheit weltweit erarbeiten, die deutsche Bischofskonferenz und die evangelischen Kirchen in Deutschland haben 2013 einen gemeinsamen Bericht zur Lage der Religionsfreiheit weltweit erarbeitet. Dieses Label Religionsfreiheit ist durchaus da, es ist natürlich eben etwas überdeckt dadurch, dass andere Organisationen mit so schlagkräftigen Zahlen werben, von denen wir zu Anfang gesprochen hatten und dann eben von 100 Millionen verfolgten Christen sprechen – das ist zugkräftiger als einen Bericht zur Lage der Religionsfreiheit weltweit zu schreiben!
Dietrich: Religionsfreiheit und Menschenrechte – eine spannungsreiche Beziehung. Ich sprach mit Daniel Legutke, Referent für Menschenrechte bei der katholischen Kommission Justitia et Pax.
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