Zum 90. Geburtstag von Michael Ende

Was vom Fantasten bleibt

05:50 Minuten
Der Schriftsteller Michael Ende 1990. Zu sehen ist ein Mann mit grauen Haaren, Bart und Brille, der eine Zigarette in der Hand hält.
Der Schriftsteller Michael Ende starb im August 1995 mit 65 Jahren. Hier 1990 in Wien. © picture alliance/APA/picturedesk.com/Robert Newald
Von Andi Hörmann · 12.11.2019
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"Die unendliche Geschichte" und "Momo" machten Michael Ende weltberühmt. Seine fantastische Literatur hat ihm aber auch Kritik eingebracht. Die Band Tocotronic schrieb sogar den Song "Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört".
"Michael Ende, nur Du bist schuld daran / Dass aus uns nichts werden kann …"
Wütender, anti-autoritärer Trash-Punk von Tocotronic: "Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört", ein Stück auf ihrem 1995 erschienenen Debüt-Album.
"Wir haben den Song dann nicht mehr gespielt, weil der Mann gestorben war, und der Song dann ein bisschen missverstanden wurde als eine Art Schmähung von ihm."
"Mit den Eltern aller Schichten / Willst du uns vernichten / Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört …"
Schon der Albumtitel klingt damals nicht zufällig nach Michael Ende: "Nach der verlorenen Zeit".
"Wir brauchen jede Stunde, Minute, Sekunde der gesamten Menschheit. Meine Zeit lasse ich mir nicht stehlen, von niemanden", heißt es in einer Szene des Films "Die unendliche Geschichte".

Der Sänger und Texter von Tocotronic, Dirk von Lowtzow, reflektiert gut 25 Jahre nach Veröffentlichung des Songs sein jugendliches Aufbegehren gegen das Werk des bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautors.
"Es ging ja darum, dass man sich sozusagen als eine Generation definiert, die von dem Mann versaut, aber doch auch auf eine Art geprägt ist. Weil wir aus einer Generation kommen, als die Bücher von Michael Ende eben als Kinderbücher von Eltern, Lehrern, Verwandten und so weiter einem zugetragen wurden als etwas, was man lesen soll: Das sei wertvoll. Und wir haben aber schon als Kinder erkannt, dass das Mist ist."
"Aber der große Fantast der deutschen …"
"Ja, leider. Aber er ist kein guter Fantast."
Noah Hathaway als "Atreju" in einer Szene des Films "Die unendliche Geschichte". Eine Junge steht in einer Fantasiewelt.
Noah Hathaway als "Atreju" in einer Szene des Films "Die unendliche Geschichte".© picture alliance/dpa

Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt

Aber der erfolgreichste Fantast der neueren deutschen Literatur: Die Bücher von Michael Ende haben weltweit eine Gesamtauflage von mehr als 30 Millionen, übersetzt in 40 Sprachen.
"Ich fand es schon als Kind blöd. Jim Knopf ist ein sehr schönes Buch. Das muss man sagen."
"So, Jim, alter Junge, jetzt geht's los …"
"Das ist fast ein Buch, was deutsche Geschichte im Sinne der Nazizeit, Völkermord und so weiter, aufarbeitet. Das ist schon gar nicht uninteressant. Aber 'Die unendliche Geschichte' und 'Momo' finde ich fürchterlich, also, würde ich meinen Kindern nicht zu lesen geben – hätte ich Kinder."


Kritik hagelte es schon zu Lebzeiten von Michael Ende: Seine Texte seien eskapistisch, sie verführten zur Weltflucht.
"Seine ganze 'Unendliche Geschichte' ist eigentlich gerade die Parabel dazu, dass eben Weltflucht ein Unsinn ist", meint Roman Hocke, langjähriger Verleger und Freund von Michael Ende. Heute ist er Nachlassverwalter seiner Werke.
"Bastian kommt zwar in eine fantastische Welt, die Welt der 'Unendlichen Geschichte', verliert sich dort auch, aber findet sich zum Schluss und kommt verändert in unsere reale Welt zurück und gestaltet sie plötzlich ganz anders – und wird auch ein anderer."
Radost Bokel als "Momo" 1985 in der Verfilmung des Kinderbuchs von Michael Ende. Ein Kind sitzt zwischen lauter Kinderpuppen und schaut nachdenklich. 
Radost Bokel als "Momo" 1985 in der Verfilmung des Kinderbuchs von Michael Ende. © picture alliance/dpa/Jahnke

Wollte nie Kinder- und Jugendbuchautor werden

Kindliches Träumen, grenzenlose Hoffnung und der bedingungslose Glaube an die Kraft der menschlichen Imagination. Es ist die Tugend einer Art reflektierten Traumwandelns, die Michael Ende mit dutzenden Büchern seinen Lesern ans Herz legt. Im Mega-Bestseller "Die unendliche Geschichte" hat er als 50-Jähriger die Trennlinie zwischen Realität und Fantasie, zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt verschwimmen lassen. Kinder- und Jugendbuchautor, das wollte Michael Ende eigentlich nie sein.
"Warum schreibe ich für Kinder? Schon hier stocke ich und sehe ich, dass ich mir die Frage anders stellen muss, um weiter zu kommen. Denn im Grunde schreibe ich überhaupt nicht für Kinder."
In dem von Gert Heidenreich gelesenen Essay "Über das Ewig-Kindliche" aus dem 1994 erschienenen Buch "Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen" formuliert es der Schriftsteller so:
"Ich habe mich ein Leben lang dagegen gewehrt, das zu werden, was man heutzutage einen richtigen Erwachsenen nennt, nämlich jenes entzauberte, banale, aufgeklärte Krüppelwesen, das in einer entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt sogenannter Tatsachen existiert."
Humanistischer Hyperrealismus
Was steckt also drin, im Werk von Michael Ende, in seiner fantastischen Literatur? Philosophie, Ethik, Moral – doch vor allem auch die Inspiration zum Träumen jenseits von Bildungswesen und Leistungsgesellschaft. Es ist eine Art humanistischer Hyperrealismus, der die Texte von Michael Ende so zeitlos macht: Fridays for … nein, Fantasie for Future — auch mit geballter Faust und Wut im Bauch.
Der Zorn im Tocotronic-Song von 1995 gegenüber dem großen Fantasten Michael Ende relativiert sich, wenn Sänger Dirk von Lowtzow heute bekennt:
"Ja, also ich bin jemand, der … Wie soll ich sagen? Also ich habe eine Seite, die sehr dem Fantastischen zugeneigt ist."
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