Zum 70. Geburtstag von Kent Nagano

Haare und Musik in Bewegung

Ein Mann mit ergrauten, längeren Haaren steht vor enem Poster eines Konzerts aus der Elbphilharomie, auf dem viele Musiker zu sehen sind. Er trägt einen dunklen Anzug, eine dunkle Krawatte und ein helles Hemd.
Dirigent Kent Nagano ist heute Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper. Geboren wurde er in Kalifornien. © picture alliance/dpa
Von Rainer Pöllmann · 22.11.2021
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Als Kent Nagano mit 50 Jahren nach Berlin kam, war das ein Wendepunkt für den Kalifornier. MIt dem Deutschen Symphonie-Orchester begab er sich auf einen mutigen und originellen Pfad. Sein Musikbegriff geht weit ins Metaphysische hinein.
"Was ist ein Konzert? Was muss erhalten bleiben zwischen Publikum und Musiker nach einem Konzert? Was ist die Relevanz von einem Konzert heute? In der heutigen Welt?" Solche Fragen stellt sich Kent Nagano, der nun seinen 70. Geburtstag feiert.
Als er nach Berlin kam, im Jahr 2000, da waren die langen, schwarzen Haare sein Markenzeichen. Sie wehten nicht nur auf dem Podium der Philharmonie, sondern auch auf Plakaten in der Stadt.
Mit voller Absicht, sagt Nagano: "Haare in Bewegung mit Musik. So dass man nicht mehr ein Gesicht fühlt, sondern mehr eine Bewegung von Musik." 

Was für ihn zählt, ist das Menschliche

Die Haare sind grau geworden, zwei Jahrzehnte später. Aber in Bewegung sind sie nach wie vor. Und vielleicht sind sie ja auch Merkmal einer gewissen Altersweisheit. „10 Lessons of my life“ ist das jüngste Buch von Kent Nagano überschrieben, „10 Lektionen meines Lebens“. Und der Untertitel: „Was wirklich zählt.“

Was wirklich zählt: Das ist für Kent Nagano – heute mehr denn je – das genuin Menschliche, das Humanistische, das der Kunst innewohnt und das ausstrahlen kann auf die „restliche“ Welt. In seinem Buch macht er das an Musikern und Musikerinnen fest, von Leonard Bernstein bis Björk.
Aber auch sie sind eigentlich nur Personifikationen für einen Musikbegriff, für eine Vorstellung von Musik als Kunst, die weit ins Metaphysische hineinreicht.
"Warum Musik? Warum ist symphonische Musik wichtig? Warum ist unsere Vergangenheit und diese lange Tradition immer geblieben? Ich kann an keine andere Zeit denken, zu der Musik notwendiger war als heute. Das Paradox heute ist: Wir arbeiten stundenlang, um unsere Technik zu perfektionieren. Aber das ist nicht Musik. Das ist nur Technik. Was liegt hinter der Technik? Selbstverständnis, Inhalt. Inhalt ist ganz persönlich, ganz subjektiv."

Wendepunkt Berlin

Als Nagano nach Berlin kam, war er ein noch weitgehend unbeschriebenes Blatt. Berlin, die Jahre beim Deutschen Symphonie-Orchester, waren, so hat er mal gesagt, „ein Wendepunkt“. Und ganz sicher ein Aufbruch. Eine Zeit, in der er sein Potenzial entfalten konnte.
Über sechs Jahre hinweg, von 2000 bis 2006, entfalteten er und sein Dramaturg Dieter Rexroth einen Masterplan der Repertoire-Erkundung, den es so noch selten gegeben hat: von Ockeghem bis Wolfgang Rihm; Monteverdi und Ligeti miteinander kombiniert; Schönbergs Psycho-Monodram „Erwartung“ eingefügt in Bruckners Neunte. Kühne Konzeptionen – und natürlich nicht alles davon ging auf.
Die Berliner Jahre sind für viele, die Naganos Weg verfolgen, seine erfolgreichsten. Und die folgenreichsten.

Karriere als Wunder und Geschenk

Es schloss sich an: ein eher unglückliches Intermezzo an der Bayerischen Staatsoper – und seit 2015 die Tätigkeit als Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper. Und dazu noch, seit vielen Jahren, die Chef-Position beim Symphonieorchester von Montréal.
"Eine Karriere ist etwas, das muss wirklich nicht in unseren Händen, unter unserer Kontrolle sein. Es ist ein Geschenk", sagt Nagano. "Es ist ein Wunder, wenn man Glück hat, eine Karriere zu haben. Was man tun kann, ist zu versuchen, tief der Musik zu dienen."
Das klinge zwar einfach, es sei aber nicht einfach: "Es betrifft Arbeit, Studienzeit, Stimulation. Stimulation kommt nicht automatisch. Man muss sie recherchieren, finden, explorieren und provozieren. Wenn wir das können, dienen wir eine Ewigkeit."

Ein Amerikaner in Berlin

Geboren ist Kent Nagano in Kalifornien. Und er legt Wert darauf, durch und durch Amerikaner zu sein. Seine Ästhetik, sein musikalisches Denken sind aber eher europäisch geprägt. Jedenfalls fühlt er sich dieser europäischen Tradition von Musik als künstlerischem Ausdruck verbunden und verpflichtet.
"Ja, ich bin Kalifornier, ich bin Amerikaner. Aber ich war nie irgendwo zu Hause", sagt Nagano. Er war Student bei Olivier Messiaen in Paris. "Das war eine sehr, sehr interessante Zeit, denn ich war in dem Land von Debussy, in dem Land von Ravel, in dem Land von Berlioz", blickt Nagano zurück, um dann auf seine Zeit in Deutschland sprechen zu kommen.
"Als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich fast vom ersten Tag an gemerkt, dass ich atmen konnte", sagt er. "Resultat davon ist, dass ich eine Stadt, eine Kultur gefunden habe, mit der ich eine Identifikation habe."

Entdeckerlust auch mit 70

Beethoven, Bruckner, auch Bach – die großen Komponisten der klassischen Tradition sind auch für ihn Leitsterne. Dazu die Moderne: Olivier Messiaen natürlich, bei dem er in den 1980er-Jahren studierte.
Aber auch die jüngere Generation: Jörg Widmann, Unsuk Chin oder George Benjamin. Keine Radikal-Avantgarde, eher eine Moderne, die kompatibel ist mit den – vermuteten oder tatsächlichen – Erfordernissen und Zwängen eines traditionsreichen Symphonie-Orchesters, eine Moderne aber auch, die so klangbetont arbeitet, dass sie dem Sensualismus von Kent Nagano entgegenkommt.
Die jüngste Entdeckungstour von Kent Nagano hat aber wohl alle überrascht. Richard Wagner als Komponist der „Alten Musik“, der „Ring des Nibelungen“, interpretiert vom ihm am Pult des Concerto Köln. Eine kühne, eine tollkühne Kombination, abgefedert allerdings – typisch Nagano – durch wissenschaftliche Forschung, durch einen theoretischen Diskurs.
Zur Ruhe setzen wird sich dieser Dirigent, auch mit 70, ganz bestimmt nicht.
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