Zu zweit (fast) allein

Von Michael Laages · 18.05.2012
In seiner Züricher Inszenierung von Stanislaw Lems "Solaris" setzt Regisseur Antú Romero Nunes auf die fundamentale Oberhoheit des Theaters. Seine beiden Protagonisten entwickeln auf der Bühne ganz alleine, wozu Filmemacher das Repertoire des Science-Fiction-Kinos nutzen konnten.
Wahrscheinlich gehört es zu den wesentlichen Qualitäten dieser Aufführung, dass sie auskommt, ganz ohne irgendwelches Gewinke mit dem Kino-Zaunpfahl – denn natürlich weiß das Team um Regisseur Antú Romero Nunes um Steven Soderbergs neuere und vor allem um Andrej Tarkowskis klassische Verfilmung des Stoffes am Beginn der 70er-Jahre in der Sowjetunion; und wer mit dem Regisseur die Filmbilder kennt, wird die jeweils ganz persönlichen Erinnerungsfetzen beisteuern zum Geschehen auf der Bühne.

Aber "Solaris", Stanislaw Lems philosophische Science-Fiction-Fantasie aus dem Jahr 1961, diese literarische Antwort auf Jurij Gagarins Erdumrundung und Amerikas Ankündigung, irgendwann mal den Mond zu erobern, gehört in der Schiffbau-Box des Schauspielhauses Zürich ganz und gar dem Theater. Dabei hat speziell dieser Spiel-Raum, mit Gitterrosten drunter und drüber, also Stahlkonstruktionen an Boden und Decke, ohnehin schon wenig von einer Bühne und mehr von einer Raumstation, und das bekommt der in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Aufführung obendrein sehr gut.

Vor allem aber hat Nunes sich auf eine dramaturgisch höchst effektive Grundvereinbarung eingelassen: auf ein Kammerspiel nämlich mit eigentlich nur zwei Personen. Sebastian Pircher steht zwar plötzlich mal mit auf der Bühne, aber im Prinzip ist er nur für das Livebild der (nicht übermäßig wichtigen) Videokamera zuständig; alles, was Lem ist in hundert Minuten, entwickeln Yvon Jansen und Jirka Zett ganz allein zu zweit. Und das ist eine ganze Menge.

Mit Bart- und Overall-Outfit einander zum Verwechseln ähnlich, wie Schultze & Schultze, die Detektive aus den "Tim und Struppi"-Comics, beginnen die beiden die Solaris-Station zu erforschen; die ist ja merkwürdigerweise verstummt, und der junge Wissenschaftler Kelvin kommt aus der bewohnten Welt, um heraus zu finden, warum das so ist. Wer aber in der Folge gerade Kelvin ist und wer Snaut oder Sartorius (so heißen die Überlebenden auf Solaris), das entscheidet sich von Augenblick zu Augenblick neu; Nunes zettelt ein ziemlich delirantes Verwirrspiel an mit den Protagonisten. Der Kern der Fabel aber bleibt kenntlich, wie rasant Personen und Positionen auch durcheinander gewirbelt werden mögen – offenbar herrscht im Solaris-Umfeld eine kryptische Kraft ("der Ozean", den die Station eigentlich erforschen sollte), die fähig ist, Erinnerungen zu materialisieren bei jedem, der mit Solaris in Kontakt gerät; auch bei Kelvin.
Dem erscheint die eigene Gattin, deren Selbstmord er vor Jahren nicht verhindern konnte; er unternimmt mit ihr den Weg zurück, vom Tod bis zum ersten Verliebtsein, und um zu überleben, muss er sie wieder los werden. Jetzt sind Jansen und Zett dieses Paar, das "der Ozean" wieder zusammen zwingt: mit allen erdenklichen Tricks und Illusionen. Spätestens hier würde das Kino damals wie heute sämtliche Schubladen voll technischer Zaubertricks öffnen, um unbegrenzte Möglichkeiten vor den Horizonten der Fantasie zu beschwören – aber spätestens hier erweist sich in der Züricher Aufführung die fundamentale Oberhoheit des Theaters.

Denn Nunes, der sich im Laufe der Saison ja auch schon in Hamburg und Berlin als großes Kind erwies, als Zauberlehrling, der vor allem und immer wieder hantieren und jonglieren möchte mit den Taschenspielertricks des Unter- und- Oberbühnenapparats des Theaters, greift nun ins technische Füllhorn: lässt Nebel und Projektionen miteinander verschmelzen zu galaktischen Sternenschleiern; schaltet den Regen an über einem kleinen Laufsteg in der Mitte, wo sich nun der Forscher Kelvin und die eigentlich verstorbene Gemahlin wieder der gemeinsamen Körperlichkeit erinnern können; und weißer Schaum blubbert aus der Bühnentiefe unter dem Gitterrost, wenn er ihr Blut untersucht, um auf die Spur der Strukturen zu gelangen, die sie das Sterben überleben ließen.

Wie sich dabei Jansen und Zett einander nähern und wieder voneinander entfernen, einander suchen, finden und wieder verlieren, wie sich aus dieser sonderbaren Liebesgeschichte darüber hinaus die vor gut fünf Jahrzehnten vom Fantasten Lem formulierten, aber erstaunlich modernen Thesen über Wahrnehmung und Wirklichkeit, Sein und Schein entwickeln, das hat Spannung und Klasse. Und gerade in Momenten grundsätzlichsten Spiels, wenn nämlich nicht mehr recht klar ist, ob die beiden Protagonisten überhaupt noch "spielen" oder ob sie schon "sind", ist dieser Blick auf Lem ganz fabelhaft von heute. Ganz auf sich zurück geworfen wird der Mensch in Lems Solaris-Vision, er wird immer wieder nur sich selber finden auf der Suche nach dem anderen Ich, immer nur die Erinnerungen und Fantasien wieder entdecken, die er schon kennt ...
"Immer nur Ich", ruft ihm sein Spiegelbild entgegen – aber bis dahin muss er halt auch immer wieder aufbrechen bis an die fernen Gestade des Ozeans von Solaris.

Solaris
Von Stanislaw Lem
Regie: Antú Romero Nunes
Schauspielhaus Zürich, Schiffbau-Box
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