Das Undenkbare denkbar machen

Von Sven Ricklefs · 24.11.2011
1968 veröffentlichte der polnische Schriftsteller Stanislaw Lem seinen Science-Fiction-Roman "Solaris". Dreimal wurde der Stoff verfilmt, und auch Theaterbühnen haben Adaptionen des Romans im Spielplan gehabt. Für das Münchner Volkstheater hat Bettina Bruinier sich jetzt an Lems Stoff gewagt.
Was tun, wenn man dem verdrängtesten Unbewussten leibhaftig begegnet? Was tun, wenn die gut verbuddelten Leichen im eigenen Keller plötzlich vor einem stehen? Was tun? Während man sich diesen Fragen sonst nur wohlig ausgestreckt auf der freudschen Couch stellen muss, hat sie der polnische Schriftsteller, Technikfreak und ebenso philosophisch wie psychologisch bewanderte Futorologe Stanislaw Lem vor 50 Jahren - neben vielen anderen Fragen - einfach mal ins All geschossen, um sie auf einer Forschungsstation in der Nähe des Planeten Solaris neuer Betrachtungen zu unterziehen.

Denn der Planet Solaris und mehr noch sein mit Bewusstsein ausgestatteter Ozean reagieren eher ungehalten auf die Untersuchungen und schicken den neugierigen Betrachtern Schimären aus ihrem jeweils eigenen Unterbewussten auf den Hals, die ausgestattet mit Fleisch und Blut und dazu noch mit einer Art Unsterblichkeit den Forschern im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle heißmachen.

Dass Stanislaw Lem mit seiner Science-Fiction-Vision Solaris vor allem auch die menschliche Wahrnehmung ins Visier nahm, die immer ein Konstrukt des eigenen Gehirns und damit niemals objektiv ist, das genau hat die Regisseurin Bettina Bruinier sichtbar im Münchner Volkstheater in ihrer Romanbearbeitung interessiert. Und so findet man denn auch weder Hightech auf der Bühne, noch großartigen Videoprojektionen, im Gegenteil: Bruinier verortet Solaris eher in seiner Entstehungszeit vor 50 Jahren, indem sie etwa ein altes Spulentonband als Requisit verwendet.

Dass sie vor allem auch die Mechanismen der Wahrnehmung herausarbeiten will, sieht man schon daran, dass diese Inszenierung die theatrale Wahrnehmung des Zuschauers zu seinem eigenen Anschauungsobjekt macht, indem sie bewusst ihren Entstehungsprozess zeigt. Im Mittelpunkt der aus zehn hintereinander gestaffelten Holzrahmen gebauten Bühne des Münchner Volkstheaters sitzt auf einem Podest als eine Art Gott im Unterhemd ein Techniker, der mit seinem Mischpult und mit seinen Requisiten das Licht und den Sound sichtbar herstellt.

Hier wird also zum einen Wahrnehmung nachvollziehbar gemacht, während man zum anderen den Figuren zuschaut, die sowohl als Menschen als auch als Wissenschaftler an ihrer Wahrnehmung verzweifeln oder verzweifelt versuchen, sich selbst in den Kopf zu gucken, was ja bekanntermaßen unmöglich ist.

Bettina Bruinier ist mit einem klaren Konzept an Stanislaw Lems "Solaris" herangetreten, das sicherlich nachvollziehbar macht, warum sie diesen Roman noch einmal auf der Bühne erzählen wollte. Gleichzeitig aber ist der Roman ein hoch kompliziertes Konstrukt, das in seiner manchmal auch geschwätzigen Abstraktheit relativ schwer zu beleben ist. Und so hat man auch bei dieser Münchner Theatralisierung, die sich sichtbar als Versuchsbeschreibung versteht, letztlich nicht das Gefühl, dass sie bei ihrem Versuch, das Undenkbare denkbar zu machen wirklich mit der Schwerlast des Lemschen Gedankenguts abheben kann.

Zudem steht mit Pascal Fligg ein Darsteller im Mittelpunkt, der nicht gerade zu den ersten Schauspielern des jungen Volkstheaterensembles gehört. Seinem Psychologen Kris Kelvin, der durch Solaris seiner von ihm in den Selbstmord getriebenen Frau wieder begegnet, sieht man bei vielen Gesten das Gemachte an und kann die Regieanweisungen gleichsam mitlesen. Und so wird Solaris am Münchner Volkstheater wohl eher als Gedankenanstoß denn als Theaterereignis im Gedächtnis bleiben.
Mehr zum Thema