Zu Hause bleiben und lesen

Wie hilft Literatur in Krisenzeiten?

38:30 Minuten
Jugendstilfenster an einer Station der Pariser Metro, davor die Silhouette eines lesenden Mannes, Frankreich, Paris.
Lesen entfaltet bei vielen Menschen eine therapeutische Wirkung. © picture-alliance/blickwinkel
Alexander Wilhelm im Gespräch mit Andrea Gerk · 27.03.2020
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Das Coronavirus hält uns in Bann. Umso wichtiger ist es, abzuschalten, Kraft zu tanken und auf andere Ideen zu kommen. Was wäre dafür besser geeignet als Literatur? Der Bibliotherapeut Alexander Wilhelm ist überzeugt, dass Lesen sogar Medizin sein kann.
Die Dortmunder Praxis des Therapeuten Alexander Wilhelm bleibt derzeit geschlossen. Behandlungen finden nur noch vereinzelt und telefonisch statt. Deshalb hat Wilhelm nun auch mehr Zeit, selber zu lesen: "Ich schalte persönlich auch gerne mit Büchern ab", sagt er. "Dadurch habe ich auch immer wieder die Möglichkeit, ein bisschen gedanklich zu reisen."
In seiner therapeutischen Arbeit versucht Wilhelm Menschen seinen Klienten mithilfe von Texten zu helfen, mit Werken anderer, aber auch mit selbstgeschriebenen Texten. Es geht dabei um die Wirkung des Schreibens, des Lesens, des Hörens – nicht um einen literarischen Anspruch, sondern um eine ganze Palette an Empfindungen, die durch die Literatur ausgelöst werden können.

Lesen als seelische Stärkung

Mehr noch als bei Medikamenten kommt es bei Büchern immer auf die Persönlichkeit des jeweiligen Klienten an: "Man kann einfach einen Text, ein Buch oder auch ein Gedicht nicht empfehlen wie eine Tablette", sagt Wilhelm. "Denn es hängt immer auch von der eigenen Lebens- und Leseerfahrung, beziehungsweise auch den Lesevorlieben ab."

Jenseits irgendwelcher psychischer Krankheitsbilder könne uns Literatur auch helfen, Krisen als Ausnahmezeiten, als etwas Vorübergehendes zu begreifen, so Wilhelm. "Es hat ja auch viele Phasen in der Menschheitsgeschichte gegeben, wo Seuchen, wie die Pest oder ähnliches, die Menschen heimgesucht haben, und die ja dann auch durch das Beschreiben, dass andere Menschen das überlebt haben, wiederum sich selbst aus dieser Zeit heraus katapultiert haben, um dann auch diese Zukunftsperspektive wieder zu entwickeln."

Solidaritätserfahrung durch Literatur

Dabei geht es auch um die sogenannte Solidaritätserfahrung, etwas zu lesen und dabei festzustellen, dass es einem nicht alleine so geht. "Da hat es schon Menschen vorher gegeben, denen ist es so gegangen", sagt der Therapeut. Außerdem könne Literatur ermutigend sein, wenn man über Menschen lese, die Großartiges geschafft, oder Schwierigkeiten bewältigt hätten. "Dass wir merken, die Menschen können Schwierigkeiten überwinden, das finden wir in ganz vielen Gattungen unserer Literatur."
Das Gute der momentanen Lage sei, dass diese vielen Menschen überhaupt erst wieder erlaube, zu lesen, so Wilhelm. Sie könnten sich Zeit für Bücher nehmen, die sie sonst wegen zu viel Arbeit oder Stress gar nicht erst in die Hand nehmen würden. Der Therapeut sieht darin einen "positiven Nebeneffekt dieser ganzen Ausnahmesituation".
(mah)

Buchempfehlungen der Hörer:

Robert Byron, Der Berg Athos. Reise nach Griechenland, Die Andere Bibliothek, 44 Euro.
Antonio Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts", Klett-Cotta, 32 Euro.
Delphine Minoui, Die geheime Bibliothek von Daraya, Benevento, 20 Euro.
Claudia S. C. Schwarz, Meschugge sind wir beide: Unsere deutsch-israelische Liebesgeschichte", als e-book bei der Autorin erhältlich.
Rosie Swale Pope, Mein längster Lauf: 5 Jahre. 53 Paar Schuhe. 29 Heiratsanträge. Einmal um die Welt, Eden Books, 14,95 Euro.
Albert Camus, Die Pest, Rowohlt Verlag, 12 Euro.
Hanns-Josef Ortheil, Der Stift und das Papier. Roman einer Passion, Luchterhand Verlag, 21,99 Euro.
Maja Lunde, Die Geschichte der Bienen, btb-Verlag, 20 Euro.
Maja Lunde, Die Geschichte des Wassers, btb-Verlag, 20 Euro.
Albert Vigoleis Thelen, Die Insel des zweiten Gesichts, List Taschenbuch, 16 Euro.
Hannes Lindemann: "Allein auf dem Ozean", Ullstein-Verlag, nur noch antiquarisch erhältlich.
Robert Merle, Die geschützten Männer, Aufbau-Verlag, 14,99 Euro.
Luise Reddemann, Überlebenskunst - Von Johann Sebastian Bach lernen und Selbstheilungskräfte entwickeln, Klett-Cotta Verlag, 20 Euro.
Robert van Gulik (Hrsg.), Merkwürdige Kriminalfälle des Richters Di, Diogenes-Verlag, nur noch antiquarisch erhältlich.
Herta Bleeker, Daje oder die Träume hinterm Deich, Enno Söker Verlag, 14,95 Euro.
Cees Nooteboom, Nootebooms Hotel, Suhrkamp-Verlag, 19,99 Euro.
Cees Nooteboom, Berlin 1989/2009, Suhrkamp-Verlag, 12 Euro.
Mascha Kaleko, Die Nacht, in der das Fürchten wohnt, Gedicht.
Mascha Kaleko, Rezept, Gedicht, zu finden in "Sei klug und halte dich an Wunder", dtv-Verlag, 9,90 Euro.
Konrad Dietzfelbinger, Kafkas Geheimnis, Königsdorfer Verlag, 18 Euro.
Alina Bronsky, Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche, KiWi-Verlag, 8,99 Euro.
Philip Roth, Nemesis, Carl Hanser Verlag, 18,90.
Rudolf Alexander, Weide, silbern Angesicht, Gedicht - zu finden z.B. auf der Website "Baum des Jahres":
Zwei Hörer empfahlen die Lektüre der Bibel, ein weiterer die regelmäßige Lektüre der "Süddeutschen Zeitung".
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