Zivilcourage statt Studentenleben

Einer der auszog, im Nordirak ein Waisenhaus zu bauen

08:15 Minuten
Ein Waisenjunge in einem Flüchtlingscamp der Jesiden nahe Djabakir im Südosten der Türkei.
Ein Waisenjunge in einem Flüchtlingscamp der Jesiden nahe Diyarbakir im Südosten der Türkei. © Imago / Willi Effenberger
Von Hilde Weeg · 02.08.2019
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Der Völkermord an den Jesiden im Nordirak vor fünf Jahren hat auch die im Ausland lebenden jesidischen Familien erschüttert. 150.000 Jesiden leben in Deutschland. Viele von ihnen halfen und helfen den Überlebenden. So auch Paruar Bako.
"Hier sind wir auf der rechten Seite des Dachs auf unserem Waisenhaus, mit Blick auf den Tigris." Es ist ein Foto, so groß wie ein Fenster. Aufgenommen in rund 4.500 Kilometern Entfernung. Und wenn Paruar Bako auf dieses Foto blickt, dann steht er dort, auf dem Dach des Waisenhauses in der Stadt Khanke im Nordirak. Und nicht in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Hannover. "Hinter dem Tigris, dahinter ist die Stadt Mossul, Shingal ist ungefähr drei Autostunden entfernt."
Shingal oder auch Schindsar die Heimatregion der Jesiden im Nordirak, aus der sie vor fünf Jahren von Anhängern der Terrormiliz IS vertrieben wurden, verschleppt oder getötet. Der junge Jeside Paruar Bako hat in Khanke zusammen mit vielen anderen Menschen ein Waisenhaus geschaffen. Auf dem zwei Jahre alten Foto sieht das Dach nach Rohbau aus, die Umgebung ist karg. Rechts im Hintergrund kann man eine Siedlung erkennen, eines der Flüchtlingslager.

Das Archiv seiner Geschichte auf dem Smartphone

"Das sieht lange schon nicht mehr so aus wie auf dem Foto. Das Dach ist zwar immer noch ähnlich. Aber hier zum Beispiel, das Gelände ist komplett bebaut, wir haben mit unseren Waisenkindern Bäume gepflanzt."
Paruar Bako engagiert sich für die Unterstützung geflüchteter Jesiden.
Paruar Bako engagiert sich für die Unterstützung geflüchteter Jesiden.© Deutschlandradio / Hilde Weeg
Paruar Bako, 26, trägt Bart und Brille, ist eher klein gewachsen und kräftig. Seiner Wohnung sieht man an, dass er oft unterwegs ist. Wenig Möbel. Ein TV-Bildschirm dominiert den Raum auf der einen, das Riesenfoto auf der anderen Seite. Fotos von Paruar und seiner Freundin im Regal und an der Wand. Auf dem Tisch das Handy, immer griffbereit.
Er telefoniere sechs bis sieben Stunden täglich, sagt er. Dieses Smartphone ist sein Büro, Archiv seiner Geschichte, Fenster in die Welt. Und das Symbol für sein Leben zwischen Deutschland und Kurdistan, zwischen Oldenburg, wo seine Familie lebt, und Hannover, wo seine Freundin wohnt. Zwischen Anderen-helfen-wollen, Zeuge-sein und dem Sich-selbst-organisieren-müssen.
"Ich bin in Khanke geboren, aber in Deutschland aufgewachsen. Für mich ist Deutschland meine erste Heimat. Ich liebe Deutschland mehr als Kurdistan. Aber ich bin halt aus Kurdistan gekommen, meine Eltern sind Jesiden, ich bin Jeside."

Ihn hält es nicht länger in Oldenburg

Sein Vater Ali wurde in den 80er-Jahren von Saddam Hussein verfolgt und floh nach Deutschland. Als 2014 das Massaker von Sindschar um die Welt ging, hält es ihn nicht mehr in Oldenburg. Er geht zurück, um zu kämpfen. Seine fünf Söhne und seine Frau sollten unbedingt zuhause bleiben. Aber Paruar, damals Student für Wirtschaftsrecht an der Universität Osnabrück, hält sich nicht dran und folgt seinem Vater heimlich ins Kampfgebiet: "Mein Vater ist Rebell gewesen in seinem Dorf – und vielleicht habe ich auch dieses Temperament von ihm."
Paruar wird Zeuge der Brutalität und der Gewalt durch die IS-Truppen. Aber er kämpft mit seinen Mitteln. Er filmt: "Ich hatte nur ein Handy, und mein Handy hatte eine Kamera. Und meine Freunde wussten, dass ich in Kurdistan bin. Ich hab dann Videos gemacht und hab ihnen die geschickt und gesagt: 'Ey, das müsst ihr euch reinziehen. Ihr könnt noch nicht nach Hause und die Füße hochlegen, das muss hier weitergehen. Guckt euch das mal an.' Das haben sie dann auch verstanden, sie haben diese Beiträge dann hochgeladen und gepostet. Das haben viele Menschen gesehen und es entstand eine Gemeinschaft."
Sein Schlüsselmoment kommt, als er bei einer Essensausgabe neben einem kleinen Mädchen steht: "Ich weiß nicht, wie alt sie gewesen ist, vielleicht fünf. Ich hatte sie gefragt: 'Was macht so ein junges kleines Mädchen hier alleine mit diesem Eimer in der Schlange? Wo ist deine Mutter, wo ist dein Vater?' Dann sagt sie: 'Meine Mutter wurde vom IS verschleppt und mein Vater wurde erschossen.'"
Paruar begreift, dass es viele solcher Kinder gibt und sich keine Organisation um sie kümmert: "Und so kam dann die Idee zu 'Ourbridge': 'Wieso bauen wir nicht eine Brücke?' Und das haben wir dann auch getan."

Ein neues Heim für viele Voll- und Halbwaisen

Mit Freunden in Deutschland und Kurdistan gründet er den Verein, organisiert Unterstützung und Charity-Konzerte. Es entstehen Patenschaften, Aufenthalte in Familien weltweit. Und das Waisenhaus. Fünf Jahre später finden dort 330 Voll- und Halbwaisen, Behinderte und junge Frauen ein Zuhause. Die Arbeit hat sich zwar verändert, aber der Bedarf ist weiterhin sehr groß.
"Wir möchten den Kindern alles bieten, was sie zuhause in ihrer Familie oder an den staatlichen Schulen nicht beigebracht bekommen. Das ist zum einen Gesundheit und natürlich auch das nötige Wissen und die Bildung, damit sie die staatlichen Schulen bestehen, aberr auch damit sie sich weiterbilden."
30 Menschen in Kurdistan und Deutschland sind am Projekt beteiligt. Er macht alles ehrenamtlich. Das Leitprinzip: "Wir geben etwas und fordern gleichzeitig etwas. Wir machen das nach dem Prinzip 'Wenn jemand hungrig ist, dann bringe ihm das Fischen bei und servier ihm nicht gleich einen Fisch'."
Paruar wirkt ruhig, aber auch erschöpft. Sein Leben hat sich in den letzten Jahren stark verändert: "Um ehrlich zu sein, hab ich mir das alles so nicht ausgesucht, ich bin irgendwie reingerutscht."

27 Stiche und jeder Stich hat eine Bedeutung

Bei einer seiner Fahrten durch das Kriegsgebiet 2016 wäre er beinahe gestorben. Nicht bei einer Schießerei, sondern bei einem schweren Autounfall: "Mein Fahrzeug ist gegen einen Checkpoint gefahren und hat sich überschlagen. Durch den Aufprall hatte ich innere Blutungen; das musste dann notoperiert werden. Die Schulter war gebrochen, die Rippen, die Hüfte, das volle Programm."
Zum Beweis hebt er kurz sein T-Shirt. Eine lange, grobe Narbe zieht sich über seinen Bauch: "Das Witzige ist aber: Das sind hier 27 Stiche." Sein Vater hatte in den Kämpfen gegen Saddam Hussein insgesamt 27 Angehörige verloren. Paruar ist Sohn aus der zweiten Familie, die der Vater Jahre später gründete. All das spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in Paruars Leben. Er ist überzeugt:
"Eine große Persönlichkeit hatte mal gesagt, dass es zwei wichtige Momente im Leben eines Menschen gibt. Der eine ist die Geburt, und der zweite ist der Moment, an dem er erfährt, was seine Bestimmung ist. Und dadurch dass ich diesen Krieg erlebt habe, überlebt habe, hat sich meine Lebenseinstellung komplett geändert, mein Weltbild hat sich komplett geändert. Alles, was passiert ist, ist aus einem Grund passiert. Und daran glaube ich."
Als sei er bestimmt dafür, so zu handeln: "Bevor es überhaupt angefangen hatte, war mir klar, dass, wenn ich nicht rübergehe und dort nicht meinen Beitrag leiste, dass ich mir das eines Tages nie verzeihen werde."
Das Studium hat er aufgegeben. Wie er den eigenen Unterhalt verdienen und seine Schulden begleichen soll, ist offen. Schwerer als das wiegen für ihn aber die Schattenseiten, die er in der eigenen Gemeinschaft erlebt. Er hat sich in eine Nicht-Jesidin verliebt. Sollte er sie eines Tages heiraten, könnte er ausgeschlossen werden: "Tatsächlich ist das nach der herrschenden Meinung ein Problem. In der Gemeinschaft ist es halt so, dass es drei Kasten gibt: Scheich, Pir und Merit. Und ich selber bin Merit, komme aus der untersten Kaste und man darf nur innerhalb der Kasten heiraten."

Viel für die Gemeinschaft tun

Er hofft, dass die strengen Regeln etwas flexibler werden. Schließlich hat er viel für die Gemeinschaft getan: "Wir leben an einem geografisch ganz anderen Ort, leben in einer anderen Gemeinschaft und in einer ganz anderen Zeit. Ich selbst sehe mich als Brückenbauer - und ich glaube, dass es Möglichkeiten gibt, eine bessere Zukunft zu bauen."
Dasselbe hofft er auch für die vergewaltigten Frauen und deren Kinder:
"Diese Kinder werden von der jesidischen Gesellschaft nicht akzeptiert. Es ist nicht richtig, aber bis zu einem gewissen Punkt verständlich. Wir brauchen hier eine Lösung, definitiv, keine Frage. Diese Kinder verdienen eine Chance und sie müssen in die Gesellschaft integriert werden."
So viele Fragen und Probleme, so wenig Zeit. Anfang August startet wieder ein Lkw aus Deutschland mit Hilfsgütern für das Waisenhaus, die Brücke - Ourbridge - funktioniert. Die Brücke in seine eigene Zukunft ist vorläufig eine Baustelle.
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