"Zigeunerbilder" in der Literatur

Mitschreiben am Klischee

54:26 Minuten
Rumänische Roma spielen in in Ceuas auf.
Eine rumänische Roma spielt auf. In der Romantik entstand das literarische Bild der "schönen Zigeunerin". Darin zeigen sich Projektionen und Sehnsüchte. © AFP / Joel Robine
Von Beate Ziegs · 04.04.2021
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An den Vorurteilen gegenüber Sinti und Roma haben Dichtergrößen wie Goethe, Hesse und Hauptmann mitgeschrieben. Aber auch wohlmeinende literarische Stimmen von heute lassen sich eher von Wünschen leiten als von tatsächlichen Erfahrungen.
Kaum ein anderer deutscher Schriftsteller hat sich so häufig über sogenannte "Zigeuner" geäußert wie Goethe. Man hält ihm zugute, sie durch seine Werke "literaturfähig" gemacht zu haben. Tatsächlich hat er nur die Vorurteile über sie literaturfähig gemacht und sie – wie er in Dichtung und Wahrheit selbst bekennt – bühnenwirksam eingesetzt in dem Wissen, wie gut unzivilisierte Räuberbanden oder zahnlose alte "Zigeunerweiber", die um ein Lagerfeuer hocken und unverständliche Laute murmeln, beim Publikum seiner Zeit ankommen.

Ein literarisches Symbol

In der Romantik werden "Zigeuner" auch mit positiven Zuschreibungen bedacht. "Das Bild der schönen 'Zigeunerin'", sagt der Literaturwissenschaftler Wilhelm Solms, "beginnt in dieser Zeit. In der Romantik werden 'Zigeunerinnen' als schön, attraktiv und anziehend – die Steigerung von unwiderstehlich – beschrieben. Das Absurde ist, dass man diese Gefühle ausgerechnet auf Sinti-Frauen projiziert hat, die völlig unerreichbar gewesen sind. Deshalb scheitern diese 'Zigeunerinnen' ja auch alle. Beim Happy End sind sie nie dabei."
In unserem Jahrhundert bringt man "Zigeuner" nicht mehr mit Erotik und Freiheitsdrang in Verbindung. Die Literatur bemüht andere Klischees. Andrzej Stasiuk zum Beispiel, nicht nur einer der berühmtesten lebenden polnischen Autoren, sondern auch einer der aufmerksamsten Chronisten der derzeitigen Transformationsprozesse in Osteuropa. Davon zeugen seine Reiseskizzen, die er 2008 unter dem Titel "Fado" veröffentlichte – in denen die Roma allerdings keinen Anteil an der Geschichte und der Entwicklung des Landes zu haben scheinen.
In dem Buch heißt es:
"Wir wollten uns vom Wahnsinn der wechselnden Bilder und Landschaften erholen, wollten uns endlich ausruhen von diesen ständigen Veränderungen. Da kam von der Gegenseite, zwischen goldenen Strahlen hervor, irgendwo aus dem lichterfüllten Nichts, ein Zigeunertreck direkt auf uns zu. Die vier Wagen, von vier mageren Pferden gezogen, waren mit zerfetzter, löchriger Plastikfolie bedeckt. Irgendwas hing heraus, irgendwelche Eimer, Blechdosen, Plastikkanister für Öl. () Piotr griff nach seiner Leica und hängte sich die Nikon über die Schulter. Sie hielten an und warteten. Dunkelhäutig, abgerissen, bunt. Sie hatten nichts, was nach unseren Maßstäben irgendeinen Wert darstellte. Decken, Geschirr, klapprige archaische Wagen und Tiere, so hager wie sie selbst. Ja, sie kamen auf einer Abkürzung aus dem Abgrund der Vergangenheit und fühlten sich in der Gegenwart recht wohl. Sie kamen aus einer vergangenen Zeit, da die Menschen mit wesentlich weniger zufrieden waren, und versuchten, in der Gegenwart zu leben, in Wirklichkeit aber erlaubten sie der Gegenwart, neben ihnen her zu fließen."

Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Gesellschaft

Klaus-Michael Bogdal, Germanist, sagt dazu: "Das findet man häufig bei postsozialistischen Schriftstellern: Die Vorstellung, dass einem in den 'Zigeunern' – das ist natürlich ein Mythos!, – genau die Gesellschaft begegnet, die man schon durch den Sozialismus verloren hat."
Dies habe nichts mit einer historischen Analyse zu tun, führt Bogdal weiter aus, "sondern mit einer Wunschvorstellung von einer ursprünglichen, osteuropäischen Gesellschaft, die anders ist als die westeuropäische Gesellschaft. Sie nehmen einen Eindruck, der sehr genau beobachtet ist. Das können sie auch, dafür haben sie einen Blick. Sie werten das auch nicht ab; das würde ein westlicher Reisender machen."
Aber indem sie daraus eine Allegorie formen, entdecken sie "damit das Ewige, das Zeitlose, das Einfache, das Unverdorbene."

Die Mehrheitsgesellschaft über Minderheiten

Über keine andere Minderheit wissen die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft so wenig und meinen dennoch, so viel über sie sagen zu können wie über sogenannte "Zigeuner". Was gesagt wird, beruht in den seltensten Fällen auf persönlichen Erfahrungen.
Die Nicht-Sesshaften sind noch immer eine beliebte und gefährdete Projektionsfläche. Seit Jahrhunderten liefern Literatur und die Musik, aber auch neuere Medien wie der Film und das Internet Inszenierungen des "Zigeunerlebens", die mit der Lebenswirklichkeit von Sinti, Manouches oder Kalderasch wenig zu tun haben.
(uck)

"Dasein als Staffage" – Zur literarischen Inszenierung der "Zigeuner"
Ein Feature von Beate Ziegs
Es sprachen: Julia Brabandt, Ilka Teichmüller, Michael Rotschopf und Joachim Schönfeld
Ton: Lutz Pahl
Regie: Beate Ziegs
Redaktion: Sigried Wesener
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2011

Sie hören eine Wiederholung vom 24. Juli 2011. Das Manuskript zur Sendung können Sie als PDF oder im barrierefreien Textformat herunterladen.
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