Zeitenwende durch den Ukraine-Krieg

Beginn einer neuen Weltordnung?

54:49 Minuten
Jens Stoltenberg spricht vor Nato-Truppen in der Tapa Militärbasis. Die Zielfernrohre zweier Panzer rahmen das Bild.
„Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“, zitiert der Historiker Michael Wolffsohn ein altes lateinisches Sprichwort. © Getty Images / Leon Neal
Moderation: Axel Rahmlow · 04.03.2022
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Seit dem Beginn von Putins Angriffskrieg wird Russland in bisher nie dagewesener Weise international isoliert. Der Westen scheint geeint – der Bundeskanzler spricht von „Zeitenwende.“ Wie verändert das die Gesellschaften und die Weltordnung insgesamt?
Der Historiker Michael Wolffsohn geht davon aus, dass die Ukraine als Staat diesen Krieg nicht überleben wird. Den großen Städten drohten im Krieg das Schicksal von Grosny und Aleppo, die 1999 und 2015 im Häuserkampf und unter Bombardierungen völlig zerstört worden sind. Das werde ein sehr blutiger Kampf, der sich noch lange hinziehen könne, so Wolffsohn, der bis 2012 an der Universität der Bundeswehr in München lehrte. Und der Kampf werde sich auch unter einer russischen Besatzung im Guerilla-Krieg fortsetzen und nicht nur auf dem Territorium der Ukraine. Die Kosten des Krieges und der Besatzung würden für Russland enorm sein.

„Willst Du den Frieden, bereite den Krieg vor“

Aufrüstung ist insofern Friedenspolitik, sagt auch der Mitbegründer der Denkfabrik „Zentrum Liberale Moderne“, Ralf Fücks. Man habe es jetzt mit einem skrupellosen Gegenspieler in Russland zu tun, dem man nicht mit pazifistischen Antworten begegnen könne. Man brauche die Fähigkeit zur Abschreckung und eine funktionsfähige Armee, die wir im Augenblick aber nicht hätten, so der frühere Grünen-Politiker. Auch seine Partei müsse sich mit Fragen von Krieg und Frieden auf andere Weise beschäftigen, als sie es sich wünschte.

Putin hat Selenskyj unterschätzt

Gwendolyn Sasse ist sich mit Fücks einig, dass Putin den ukrainischen Präsidenten Selenskyj unterschätzt hat. Die Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien (ZOIS) sagt: "Er ist die Schlüsselfigur auf der ukrainischen Seite." Man habe ihn wegen seiner fehlenden politischen Erfahrung nicht ernst genommen. Er ist eines der wirklichen Ziele von Wladimir Putin. Niemand weiß, ob er den Krieg überlebt. Und es ist die Frage, in was für einer Ukraine er dann Politiker wäre. Es wird eine andere Ukraine. Wenn er das überstehen könnte, wäre ihm ein großer Vertrauensvorschuss der Bevölkerung sicher.

Das Kriegsrisiko für Russland

Der Krieg ist aber auch für den autoritären Präsidenten Putin eine Gefahr, sagt die Osteuropa-Expertin. Es baue sich ein gewisses Momentum in der eigenen Bevölkerung auf. "Die Sanktionen werden erst in den nächsten Wochen und Monaten greifen", sagt Sasse. Die Strategie des Westens müsse weiterhin sein, dass Europa, die USA und die NATO geschlossen dastehen.

Europa braucht mehr Autarkie

Sicherheitspolitisch sollten sich die Europäer aber nicht zu sehr auf die alte Schutzmacht USA verlassen, meint Josef Braml, USA-Experte und Fachmann für Internationale Beziehungen. Europa bräuchte mehr Autarkie und sollte auf die längst formulierten Angebote des französischen Präsidenten Macron eingehen, unter dem französischen Schutzschirm der „Force de Frappe“ auch im Hinblick auf nukleare Abschreckung unabhängiger zu werden. „Wir haben es Putin zu verdanken, dass wir aufgewacht sind,“ sagt Braml und plädiert für eine europäische Verteidigungsstrategie.

Wehrpflicht und neue Weltordnung

Auch der Historiker Michael Wolffsohn fordert in diesem Zusammenhang eine Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland. Daran gehe kein Weg vorbei. Es bewahrheite sich das lateinische Sprichwort: „Si vis pacem para bellum" – "Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“. Ja, es gebe einen „guten“ Krieg, so Wolffsohn und nennt als Beispiel den Kampf der Alliierten gegen Hitler-Deutschland.
Ob der Krieg in der Ukraine nur durch China als weltpolitischem Gegenspieler der USA gestoppt werden könne, darüber sind sich die Experten nicht einig – auch darüber nicht, wohin sich die neue Weltordnung entwickeln könnte. Ob es einen Riss zwischen den Blöcken Russland/China, deren Sympathisanten und den Staaten des demokratischen Westens – der NATO und der EU – geben wird, darüber diskutieren im „Wortwechsel“:

Josef Braml, Experte für Transatlantische und Internationale Politik, Berlin
Ralf Fücks, Zentrum Liberale Moderne, Berlin, und Grünen-Politiker
Gwendolyn Sasse, Direktorin am Zentrum für Osteuropa- und Internationale Studien (ZOiS) Berlin (*)
Michael Wolffsohn, Publizist und Historiker, em. Universität der Bundeswehr, München

(*)Redaktioneller Hinweis: Wir haben die Bezeichnung des Instituts korrigiert.
(bk)

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