Zafer Şenocak: "Das Fremde, das in jedem wohnt. Wie Unterschiede unsere Gesellschaft zusammenhalten"
Edition Körber, Hamburg 2018
224 Seiten, 18 Euro
Wider den Homogenisierungsdruck
Gegen alle Forderungen nach Assimilation von Zuwanderern setzt der türkischstämmige Publizist Zafer Şenocak ein Plädoyer für Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt. Das schwäche eine Gesellschaft nicht, meint er. Im Gegenteil: Es stärke den Zusammenhalt.
"Einwanderer sollen in der Familie deutsch sprechen." Die Forderung der CSU vor ein paar Jahren erntete heftigen Widerspruch. In dem Integrationsgesetz, das sie 2016 in Bayern verabschiedete, fehlte dann zwar dieser Zwang. Die Idee zeigt jedoch die gängige Vorstellung von gelungener Integration: Ausländer sollen sich vollständig an die deutsche Kultur angleichen.
Gegen diese Auffassung führt der Berliner Schriftsteller Zafer Şenocak ein "Recht auf Muttersprache" ins Feld. In seinem jüngsten Buch wendet sich der Autor gegen die Idee, dass Mehrsprachigkeit den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft schwächt.
Plädoyers für die Anerkennung von Differenz und Vielfalt sind so wohlfeil wie ubiquitär und folgenlos. Was Şenocaks Versuch besonders macht, ist sein nicht nur politisches, sondern auch literarisches Anliegen – und wie der Autor aus seiner persönlichen Geschichte heraus argumentiert.
Schreiben als "Lebenselixier des Diesseitigen"
1961 in Ankara geboren wuchs er zwischen zwei türkischen Sprachen auf: der traditionellen seines religiös geprägten Vaters und der modernen seiner säkular eingestellten Mutter. Als Student in München wird ihm schließlich Deutsch zur "Sprache des Vertrauens". Oft fragt er sich, ob er zwischen so gegensätzlichen Sprachen nicht zum "Fremden für mich selbst" geworden ist.
Sein Lob der Zweisprachigkeit leitet er aber genau aus diesem Dilemma ab: "Die Möglichkeit, Goethe und die deutschen Romantiker mit der Brille der türkischen Sprache zu lesen, löste in mir jene Kreativität aus, die mich Gedichte schreiben ließ."
Şenocaks Essay ist ein schönes Beispiel schweifenden Denkens, das sein Thema mehr umkreist als fokussiert. Er lässt seine Familiengeschichte ebenso Revue passieren wie die Kulturgeschichte der Türkei. Er sinniert über den Sufismus als Alternative zum politischen Islam wie über das Schreiben als "Lebenselixier des Diesseitigen".
Für eine Erziehung zur Mehrsprachigkeit
Im strengen Sinne beweisen kann Şenocak seine zentrale Erkenntnis, dass "die Vertiefung in den Geist und die Atmosphäre unterschiedlicher Kulturen eine multiple Identität ermögliche, nach verschiedenen Seiten hin offen", nicht. Aber sie ist genauso überfällig wie sein Plädoyer für eine andere Migrationspolitik.
Seine Klage, dass Einwanderer nur als "Objekt und Sozialfall" betrachtet werden, ist nicht neu. Wichtiger ist seine Kritik an dem Desinteresse an der Geschichte der Migration. Dass die Gedanken wie die Hinterlassenschaften der Eingewanderten zum Verschwinden verurteilt seien, führe dazu, "dass wir gegenseitig Fremdheit vererben".
Şenocaks Buch ist keine Anklageschrift. Leise, aber nachhaltig argumentiert er gegen den Homogenisierungsdruck. Er fordert eine "Erziehung zur Mehrsprachigkeit" und zur "multiplen Identität" für alle Deutschen. Das große Thema Migration formuliert er als kulturelle Aufgabe jenseits von Abschiebemanagement und Goodwill-Floskeln à la "Der Islam gehört zu Deutschland".
"Es fehlt uns in Deutschland", legt der Autor den Finger in die Wunde einer in ihrer Identität verunsicherten Nation, "bislang ein Narrativ, das die Zukunft unserer Gesellschaft mit ihrer kulturellen Vielfalt und ihrem Vexierspiel der Identitäten beschreiben würde".