Historiker Wulf Kansteiner

Kämpfe ums Gedächtnis

56:35 Minuten
56 Stolpersteine erinnern in Berlin an NS-verfolgte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Auswärtigen Amts.
Die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig sind eine der bekanntesten Formen der Erinnerungskultur in Deutschland. © picture alliance / imageBROKER / Siegra Asmoel
Moderation: René Aguigah · 18.09.2022
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Kollektive Erinnerungen sind immer umkämpft, sagt Wulf Kansteiner. Der Mensch sei ein "Erinnerungstier, das immer auf den Vergleich angewiesen ist". Der in Dänemark lehrende Historiker plädiert für eine Pluralisierung von Erinnerung.
Ob es um den Krieg in der Ukraine geht oder um die verstörenden Holocaust-Vergleiche des Palästinenserführers Abbas, ob antisemitische Bilder bei der „documenta fifteen“ diskutiert werden oder die Rückgabe von Benin-Bronzen an Nigeria, auch bei der Frage, ob die „Stauffenbergstraße“ eine passende Anschrift für das Verteidigungsministerium der Bundesrepublik ist: Unzählige Auseinandersetzungen sind auch Auseinandersetzungen über Erinnerungskultur.
Wie aber entsteht kollektive Erinnerung? Wie wirkt sie, und wie wird um sie politisch gerungen? Was besagt der mehr oder weniger ironische Titel „Erinnerungsweltmeister“? Und wie kommt es, dass der Umgang Deutschlands mit seiner Geschichte aus der Perspektive anderer Länder nicht immer weltmeisterlich wirkt?
Wulf Kansteiner blickt in die Kamera, Er trägt ein gestreiftes Hemd und ein blaues Jackett.
Wulf Kansteiner lehrt Geschichtswissenschaft an der Universität Aarhus in Dänemark. Seine Forschungsschwerpunkte sind Neuere und Neueste deutsche Geschichte, Mediengeschichte, Geschichtstheorie und Collective Memory Studies. © privat
Der Historiker und Geschichtstheoretiker Wulf Kansteiner lehrt, nach Jahren in den USA, nun im dänischen Aarhus. In diesem Studiogespräch sortiert er ein paar dieser Themen aus der Perspektive der „Memory Studies“.

Selbstkritische Erinnerungskultur in Deutschland

Aus dieser Perspektive wundert es Kansteiner nicht, dass an allen Ecken und Enden über Geschichte und Erinnerung gestritten wird. Kollektive Erinnerungen seien immer umkämpft, sagt er. Das gelte auch für die These, der zufolge der Holocaust ein singuläres, ein einzigartiges Verbrechen gewesen sei.
Diese These habe sich in den 80er-Jahren durchgesetzt und sei zu einem Fundament für die Herausbildung einer selbstkritischen Erinnerungskultur in der Bundesrepublik geworden; eine Errungenschaft.
Zugleich macht Kansteiner deutlich, „dass Einzigartigkeit eben kein Faktum ist, keine Tatsache. Es ist ein ausgesprochen komplexes Konstrukt, weil Einzigartigkeit beinhaltet, dass ein Massenverbrechen mit ganz vielen anderen Massenverbrechen verglichen wird und dass man dann zu dem Schluss kommt, hier gibt es einzigartige Charakteristika – aber diese Einzigartigkeit basiert auf Vergleichskriterien, und die sind nicht allgemein gültig.“

Hierarchisierung von Katastrophen

Kansteiner würdigt die Funktion der Singularitätsthese, und er hinterfragt ihre Nützlichkeit für die Gegenwart. Dabei bezieht er sich auf den Historiker Peter Novick, der in seinem Buch „Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord“ (deutsch 2001) das Diktum von der Einzigartigkeit des Holocaust schon vor rund 20 Jahren kritisiert hat, weil diesem eine Hierarchisierung von Katastrophen eingeschrieben sei.

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Ausgehend davon, äußert Kansteiner Verständnis dafür, dass in jüngster Zeit der Genozidforscher Dirk Moses oder der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg die Gegenwart der deutschen Erinnerungskultur auf unterschiedliche Weise hinterfragt haben: „Die Gefahr, die Beobachter wie Michael Rothberg oder Dirk Moses sehen, wenn sie nach Deutschland blicken, ist, dass diese Erinnerung dann so harte Linien einzieht, zu dem, was akzeptabel ist und was nicht, dass die unter Umständen nicht sehr demokratisch verfasst ist, dass hier gewisse dogmatische Linien eingezogen werden, die es dann schwieriger machen für neue Generationen sich einzubringen, für auch zum Beispiel Einwanderer, mit anderen Interessenlagen.“
Mit anderen Worten: Erinnerungskultur in einer Einwanderungsgesellschaft folge anderen Zwecken als in einer homogenen, etwa weißen, Gesellschaft. Kansteiner plädiert für die Pluralisierung von Erinnerung.

Erinnerung ist ein Werkzeug

Grundsätzlich geht es nicht ohne kollektive Erinnerung, sagt er. Der Mensch sei ein „Erinnerungstier, das immer auf den Vergleich angewiesen ist“, unabhängig davon, ob der jeweilige Vergleich dann ein gut oder schlecht gewählter sei. Zudem sei Erinnerung ein „Instrument“, ein „Werkzeug“, das politischen Zielen diene und das nicht durch die Geschichte selbst vorgegeben sei.
Ein Werkzeug, das Wirkung selbst in Bezug auf Katastrophen entfalten könnte, die noch nicht eingetreten sind, wie Kansteiner anhand der Klimakatastrophe erläutert: „Bisher war er doch immer so in der Erinnerungspolitik: Es ist eine Katastrophe passiert, im besten Fall haben wir uns an diese Katastrophe erinnert, um ähnliche Katastrophen in der Zukunft zu verhindern. Und das geht auch. Bei der Klimakrise geht das nicht. Also brauchen wir hier eine Erinnerungskultur, in der Zeit andersrum verläuft. Wir müssen uns jetzt an die Klimakatastrophe in ihrer ganzen katastrophalen Auswirkung erinnern, damit sie nicht passiert."

Wir brauchen eine kontrafaktische Erinnerung an zukünftige Katastrophen, damit sie nicht stattfinden.“

Historiker Wulf Kansteiner

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