Wucherungen der Wohlfahrtsindustrie

Rezensiert von Konrad Adam |
Über ein Drittel der öffentlichen Ausgaben werden mittlerweile für das Soziale ausgegeben - in "Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates" geht es darum und um die kritische Auseinandersetzung mit den Wucherungen der deutschen Wohlfahrtsindustrie.
Unter den deutschen Periodika mit mehr als ephemerem Anspruch sticht der "Merkur", die deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, deutlich hervor. Dies nicht nur deshalb, weil er das Massensterben, dem in den Sechziger- und Siebzigerjahren viele der Nachkriegsgründungen zum Opfer fielen, heil überstanden hat, sondern auf Grund seines gleichbleibend hohen Niveaus. Der "Merkur" bildet den Zeitgeist ab, ohne ihm hinterherzulaufen, ihm hörig zu werden oder ihm zu dienen.

Das jüngste Sonderheft, ein Band von immerhin fast 300 Seiten, ist dem Versuch gewidmet, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates auszuloten. Das Thema zitiert den Titel einer Schrift Wilhelm von Humboldts, der in den vergleichsweise idyllischen Zeiten des frühen neunzehnten Jahrhunderts das Verhältnis von Staat und Gesellschaft neu bestimmen wollte.

Damals musste sich eine Regierung dafür rechtfertigen, wenn sie weiter und immer weiter um sich griff und es wagte, den Untertan ein Zehntel ihres Einkommens abzufordern. Heute beansprucht der Staat die Hälfte, das meiste davon für sozial genannte Zwecke, und gibt sich damit längst noch nicht zufrieden. Das Thema ist also aktuell.

Was den Staat in die Breite, wenn auch nicht in die Tiefe wachsen lässt, sind nicht seine klassischen Aufgaben wie etwa die Rechtspflege, das Steuerwesen oder die Sicherheit nach aussen und nach innen. Was immer mehr und mittlerweile über ein Drittel der öffentlichen Ausgaben beansprucht, ist das Weltreich des Sozialen. Die meisten Beiträge des vorliegenden Heftes setzen sich denn auch mit wechselnden Argumenten, aber durchweg kritisch mit den Wucherungen der deutschen Wohlfahrtsindustrie auseinander.

Neu ist das Wenigste davon; was allerdings kein Einwand ist, da in einer neuerungswütigen Zeit nur das Falsche wirklich neu sein kann. Der erste Teil des Heftes erinnert an die Heroen des Liberalismus, an Männer wie Locke und Burke, an Mill und Tocqueville, an Kant und Popper und Friedrich August von Hayek. Das Rad sei schon erfunden, die Freiheitstexte schon geschrieben - man müsse sie nur lesen, begründen die beiden Herausgeber Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel ihr Arrangement. Und weiter:

"Deshalb versammelt dieses Themenheft in seinem ersten Teil Kommentare zu sechzehn klassischen Schriften, in denen die Kategorie der Freiheit stark gemacht wird. Im zweiten Teil (mit dem der Leser gern beginnen kann) stehen fünfzehn Essays, die einen Überblick bieten über die aktuelle Lage der Freiheit, über ihre Gefährdungen und die Notwendigkeit des Liberalismus"."

Hobbes fehlt in dieser Auswahl, was einerseits verständlich ist, da er ja nun wirklich kein Anwalt der Freiheit war, aber auch schade ist, weil Hobbes der Freiheit denjenigen Begriff entgegengesetzt hat, der bis heute immer dann aufgeboten wird, wenn der Staat seine Grenzen sprengen will: die Sicherheit.

""Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates behandelt die Bürger als Kinder, Patienten oder Heiminsassen und verwandelt sie allmählich in fröhliche Roboter und glückliche Sklaven. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge. Die umfassend Betreuten brauchen gar keinen freien Willen mehr und empfinden die totale Vorsorge als Wohltat. Der demokratische Despotismus entlastet sie nämlich vom Ärger des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens","

schreibt der Berliner Norbert Bolz in seinem Essay.

Das ist die eine, spezifisch deutsche Sicht der Dinge. Die andere kommt in dem Aufsatz zur Sprache, den der Engländer David Runciman zu dem Sammelband beigesteuert hat. Im Rückgriff auf die Untersuchungen von Richard Wilkinson und Kate Pickett beantwortet er die selbstgestellte Frage, ob Gleichheit - und zwar nicht etwa nur die Rechtsgleichheit, sondern die Gleichheit von Chancen und Einkommen - glücklich macht, mit einem ziemlich lauten Ja.

""Mehr Gleichheit ist etwas Gutes und eine Idee, die es zu verteidigen lohnt. Es wäre schön, wenn mehr Politiker dazu bereit wären, sich für Gleichheit einzusetzen und sie zu verteidigen","

heißt der letzte Satz dieses Beitrags.

Ausgiebig variiert wird von mehreren Autoren das Rosa Luxemburg zugeschriebene Wort, die Freiheit sei immer die Freiheit der anderen. Wie weit es mit dieser Art von Freiheit her ist, hat die Reaktion der meinungsbildenden Klasse auf Thilo Sarrazins Thesen über die Zukunft Deutschlands als bunte Republik erst dieser Tage wieder in Erinnerung gebracht. Auch deswegen ist man enttäuscht, wenn man unter der vielversprechenden Überschrift "Gedankenfreiheit in Zeiten der Krise" nicht mehr findet als eine akademisch ausgeruhte Betrachtung über die Vorzüge des skeptischen Denkens. Das haben andere, zum Beispiel Odo Marquardt, schon besser vorgetragen.

Beachtenswert dann wieder das Bild, das Klaus Hartung von der einigermaßen neuen Figur des sozialen Unternehmers entwirft. Aus seiner Erfahrung als Berliner Bürger schildert er, was aus der Umverteilung wird, wenn sie den Kapitalisten in die Hände fällt.

""Im April 2010 wird in Berlin ein Temposünder geblitzt. Damit begann die Maserati-Affäre. Als die Polizei entdeckte, dass der Luxuswagen dieses Schnellfahrers ausgerechnet auf Betriebskosten der Berliner Treberhilfe fährt, fiel unvermittelt der breite Lichtkegel der Öffentlichkeit auf einen Schattenbereich des Sozialstaates, den riesigen Markt der Sozialunternehmen."

So beginnt sein Bericht über das Geschäftsmodell von Leuten, die sich mit ihrem Einsatz für andere eine goldene Nase verdienen.

Was dabei sichtbar wird, sind die Umrisse eines Staates, der sich als Helfer aufspielt, in Wahrheit aber Täter ist. Er hält die Menschen in jenem Netz aus Armut, Unwissenheit und Abhängigkeit gefangen, aus dem er sie angeblich befreien will. Er beschäftigt ein Heer von Beratern und Betreuern, die überall mit Tee und warmen Decken zur Stelle sind und sich dafür aus öffentlichen Kassen gut bezahlen lassen. Sie haben es dahin gebracht, dass das Wort "Harzer" zum Berufswunsch von jungen Leuten und zur Lebensperspektive von Millionen Älteren geworden ist.

Der Liberalismus, der die Menschen zum Selbstdenken und zum Selbsthandeln anhält, hat es schwer in einem Land, dessen Einwohner mit Leib und Seele gehorsam sein wollen. Das den Deutschen nachgesagte Bedürfnis, im Staat den Vormund zu sehen, der seine Grenzen immer weiter vorschiebt, dürfte noch stärker werden, wenn den Behörden im Zuge der europäischen Einigung weitere Macht zuwächst. Ein Organ wie der "Merkur", die deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, wird dann wichtiger sein als je zuvor.


Merkur-Doppelheft: Die Grenzen der Wirksamkeit des Staats
Verlag Klett Cotta, Stuttgart/2010