Ukraine-Krieg

Frieden um jeden Preis?

53:39 Minuten
Radfahrer fahren an einem Wandgemälde vorbei, das die heilige Maria mit einer Panzerabwehrlenkwaffe in den Händen zeigt.
Ein Wandgemälde in Kiew feiert das US-amerikanische Panzerabwehrsystem "Javelin", das zur Verteidigung gegen die russische Armee zum Einsatz kommt. Zum Kurs der Bundesregierung in Sachen Waffenlieferungen dominieren eher die kritischen Stimmen. © Getty Images / SOPA Images / LightRocket / Sergei Chuzavkov
Moderation: Birgit Kolkmann · 03.06.2022
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Russland führt seit 100 Tagen Krieg gegen die Ukraine. Im Bundestag werden die Auseinandersetzungen über die deutsche Unterstützung der ukrainischen Armee härter. Aber auch innerhalb der EU wird der Kurs der Bundesregierung kritisch gesehen.
Die ukrainische Regierung beklagt, angekündigte Waffenlieferungen aus Deutschland seien bisher nicht eingetroffen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) betont dagegen, seine Regierung liefere schwere Waffen an die ukrainische Armee. Dieser Widerspruch löst im Bundestag und in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit Debatten aus.
Der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Ekkehard Brose, weist den Vorwurf entschieden zurück, in der verzögerten Lieferung von Waffen aus Deutschland an die Ukraine liege möglicherweise ein politisches Kalkül: „Dass die Bundesregierung eine Art Kalkül haben könnte, nicht zu viel und nicht zu schnell, damit wir eine Einigung erzielen, das, würde ich sagen, ist beinahe eine bösartige Unterstellung. Das ist überhaupt nicht meine Wahrnehmung. Man kann dies und jenes kritisieren, was die Bundesregierung entweder nicht sofort getan hat oder erst nach gewissen Umwegen getan hat, aber da gibt’s Gründe für.“
Wille zu Waffenlieferungen in der NATO ungebrochen
Die ehemalige beigeordnete NATO-Generalsekretärin Stefanie Babst kann nicht erkennen, dass bei den Mitgliedern der NATO der Wille nachlasse, die Ukraine mit Waffen zu versorgen. „Ganz im Gegenteil.“ Unter anderen hätten Deutschland, Frankreich und die USA sich jetzt durchgerungen, Waffen zu liefern, die die ukrainische Armee in die Lage versetzen, sich „gegen diesen unglaublichen Artillerie- und Raketen-Beschuss der Russen zu wehren“.
NATO und EU müssen über politische Ziele diskutieren
Stefanie Babst sieht die NATO- und EU-Mitgliedsstaaten derzeit in einer „sehr, sehr fundamentalen Auseinandersetzung“ um ihr politisches System „mit dem, was ich als ein verbrecherisches Regime in Moskau bezeichnen würde“. Deshalb sei nun in den NATO- und EU-Mitgliedsstaaten eine Debatte über das politische Ziel des gegenwärtigen Krieges dringend geboten: „Wir haben ja noch keine End-State-Debatte geführt. Selbst der Begriff ‚Die Ukraine muss gewinnen‘ wird ja in keinster Weise beschrieben. Was heißt das eigentlich konkret? Ich wäre sehr dafür, dass man anfängt, sich in den jeweiligen Organisationen, NATO und EU, gezielter Gedanken zu machen: Was ist unser strategisches End-State.“
NATO- und EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine
Der Osteuropa-Korrespondent und Sachbuch-Autor Thomas Urban verweist darauf, dass die polnische Regierung sich dafür einsetzt, der Ukraine, Georgien und Moldavien klar zu signalisieren, dass sie eine Perspektive haben, in die NATO und die EU aufgenommen werden zu können. „Die Putin'sche Argumentation ist: 'Die NATO bedroht uns, das große Russland.' Aber die andere Seite der Medaille ist: Die NATO garantiert Frieden, Stabilität und die EU ist das größte Friedensprojekt der Geschichte.“ Auch in Deutschland öffne sich der Diskurs in der SPD und bei den Grünen dafür, meint Urban.
Ukraine braucht politische Ermutigung
Der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Ekkehard Brose, hält eine EU-Beitrittsperspektive für einen „realistischen Schritt“ und betont: „Man muss aber sehr klar dazusagen, dass ein sehr großer Unterschied zwischen Kandidatenstatus und Mitgliedschaft besteht. Der Weg zwischen diesen beiden Begriffen ist der sehr langwieriger, schwieriger Verhandlungen, die dann auch Transformationen in dem Kandidatenland selbst nach sich ziehen müssen. Ich teile vollkommen die Auffassung, dass die Ukraine diese Perspektive braucht, diese politische Ermutigung.“
Russen stehen nicht geschlossen hinter dem Krieg
Der ehemalige Schweizer Botschafter in Moskau, Yves Rossier, sieht einen Wendepunkt im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine derzeit noch nicht gekommen. Russland habe jetzt einen Zermürbungskrieg begonnen und könne diesen noch über lange Zeit fortsetzen. Rossier, der inzwischen unter anderem als Berater für das „Centre for Humanitarian Dialogue“ tätig ist und weiterhin nach Russland reist, beschreibt die Stimmung in Moskau in diesen Tagen als bedrückt.
Es dürfe nicht aus den Augen verloren werden, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine für die russische Gesellschaft und die russische Wirtschaft ein „Riesenstress“ sei, sagt Rossier: „Sie sehen keine russischen Fahnen auf der Straße. Ich habe kein einziges „Z“ gesehen in einer ganzen Woche in Moskau. Die Leute machen sich Sorgen, sehen, wohin das führt. Dieser Stress ist schon jetzt sehr spürbar. Und es wird weitergehen und es wird nicht nach den Kriegshandlungen aufhören, weil die Sanktionen ganz gewiss bleiben werden. Und diese Abkoppelung der russischen Wirtschaft und Gesellschaft ist jetzt für eine lange Zeit beschlossen. Ob das eine direkte Auswirkung haben wird und vor allem, wann, das weiß ich natürlich nicht. Das Land steht nicht geschlossen hinter diesem Krieg.“
Russland auf lange Sicht in Europa verankern
Dennoch müsse Russland langfristig in eine europäische Sicherheitsordnung eingebunden werden, betont der Schweizer Diplomat. Für einen Frieden, der den betroffenen Ländern „Sicherheit und eine gerechte Ordnung“ bringe und „nicht Waffenstillstand oder frozen conflict“, sei „kein Preis zu hoch“. Rückblickend sagt Rossier: „Wir haben es nicht geschafft, seit Anfang der 90er-Jahre, Russland in Europa zu verankern. Natürlich sind wir nicht die Einzigen, die Russen sind auch dafür verantwortlich, aber es ist eine geteilte Verantwortung." Russland müsse in eine Friedensordnung integriert werden, um künftige Kriege zu verhindern.
(ruk)
Es diskutieren:
  • Dr. Stefanie Babst, strategische Beraterin und ehemalige beigeordnete NATO-Generalsekretärin
  • Ekkehard Brose, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik
  • Yves Rossier, diplomatischer Berater und ehemaliger Botschafter der Schweiz in Russland und
  • Thomas Urban, Osteuropa-Korrespondent und Sachbuch-Autor
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