30 Jahre World Wide Web

Fünf Dinge, die ohne Internet schrecklich waren

Viele Zettel, in Ordnern gestapelt
Wer heute noch mit Papierbergen arbeitet, macht das meistens zumindest freiwillig © picture alliance / Zoonar / Andres Victorero
Von Thomas Groh · 30.04.2023
Das World Wide Web ist nur 30 Jahre alt und ist doch längst in jede Faser unserer Gesellschaft eingedrungen. Gut so! Oder vermissen Sie Telefonketten? Oder Nachmittage in Copy-Shops? Eben!
Erinnern Sie sich noch an den 30. April 1993? Ich mich auch nicht. Aber an diesem Tag veränderte das CERN-Direktorium in Genf die Welt für immer. Gemerkt hat es damals niemand: Die Revolution ging schleichend vonstatten, aber fundamental. So fundamental, dass wir uns heute in die Welt von damals kaum noch zurückversetzen können. Was war geschehen? Am 30. April 1993 übergab das Cern-Direktorium in Genf der Weltöffentlichkeit das World Wide Web.

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

30 Jahre ist das her - ein guter Anlass, sich zu vergegenwärtigen, wie das Netz für uns Alltag geworden ist. So sehr, dass wir gar nicht merken, wie undenkbar eine Welt ohne WWW für uns geworden ist, selbst wenn wir das WWW verfluchen. Spaltung der Gesellschaft, Zeitfresser, Vereinsamung - Sie wissen schon. Doch wer das Internet verflucht, sollte nicht vergessen, wie es vorher war!

Was geht heute Abend?

1993, Freitagabend irgendwo in der Provinz. Schule und Hausarbeiten zu Ende, heute Abend muss noch was gehen. Also Telefonkette, während die Mutter im Hintergrund Gebühren mitschreibt: Was machst Du heute Abend? Hast Du was gehört? Gibt‘s irgendwo eine Party? Bei wem? Aber noch unklar? Was machen die Anderen? Gibt‘s ne Adresse? Okay, ich ruf dort mal an und ruf zurück. Ach, jetzt fahrt ihr doch in die Disse? Wer legt denn auf? Aha. Okay, ich telefonier mal weiter.
Verabredungen waren ein verdammt hartes Brot. Wer war wo wann mit wem und wer kam wie dorthin? Alles musste geplant und verabredet sein. Das Kommunikationsnetz war fragil: Wer aus dem Haus war, war von der Kommunikation abgeschnitten. Wehe, Pläne änderten sich, während man selber schon unterwegs war. Sobald man das Haus verließ, war das Motto: Ab jetzt gilt’s!
Klar, irgendwann gab es Handys. Die machten es etwas einfacher. Aber mobil Telefonieren war damals teuer – und löste auch nicht den gordischen Knoten des ständigen Hin- und Her-Telefonierens. Weniges ist so nervig wie zerstückelte Telefonkommunikation über diverse Teilnehmer hinweg. Erst als sich das Internet mit dem WWW flächendeckend durchsetzte, lernten wir die Vorzüge des Chattens kennen (ICQ? Like wer‘s kennt!). Chatkommunikation per Smartphone: Wie haben wir den Alltag je zuvor organisiert bekommen?

25 D-Mark für eine CD als Staubfänger

1991. Ich bin dreizehn Jahre alt. Ein Hit der Saison dank MTV: "Two Princes" von den Spin Doctors. Kennen Sie nicht mehr? Die Suchmaschine (merken Sie was?) ihres Vertrauens hilft Ihnen weiter. Sehen Sie, kennen Sie nämlich doch (zumindest, wenn Sie in etwa so alt sind wie ich). Das Lied gefällt mir so gut, da muss die CD her. Abgespart vom Taschengeld. 25 D-Mark, damals sehr viel Geld.
Dann die bittere Enttäuschung: Abgesehen vom Hit ist das Album eher nicht mein Fall. Mit den Red Hot Chili Peppers ging es mir damals übrigens ähnlich. Die Musikindustrie verdiente damals viel Geld mit Gelegenheitskäufen und CDs, die nach zweimal hören im Regal verstaubten.
Wer heute ein Album kauft, kennt das Album in der Regel schon (und kauft sehr wahrscheinlich gezielt Vinyl). Wer heute diggen geht, gräbt nicht mehr zwingend durch Kisten voller Platten, sondern surft auf der Algorithmen-Welle durch die prallen Archive der Streamingdienste. Gefühlt ist die ganze Musikgeschichte nur einen Klick weit entfernt.
Das ändert auch etwas an der Teilhabe: Subkulturen waren früher eine klandestine Angelegenheit, zu der man sich den Zugang oft mühsam erarbeiten musste. Man musste die richtigen Netzwerke kennen: Leute, Plattenläden, Mailorder, Magazine. Heute gibt es für Musik nur noch ein Netzwerk: das World Wide Web. Wobei es auch hier nicht schaden kann, die Leute mit den richtigen Playlists zu kennen.

Kopieren, kopieren, kopieren, kopieren, kopieren

2005, Semesterbeginn. Pflichttermin bei Copy Clara in Berlin-Mitte: Dort lagen die ganzen Seminar-Reader mit den Texten bereit, die die Seminarleitung als Pflichtlektüre ausgewählt hatte. Pro Seminar gerne mal ein ganzer Leitz-Ordner. Man schleppte gefühlt ganze Wälder aus totem Holz quer durch die Stadt nach Hause. Das World Wide Web gab es zwar schon. Aber Informationen dort waren oft spärlich, aus zweiter oder dritter Hand - zumindest in den frei verfügbaren Quellen. Ich studierte noch in Institutsbibliotheken und dank Copy Clara. Studiensysteme wie Moodle und Whiteboard kamen erst gegen Ende meines Studiums in Mode.
Heute beklagen sich viele Professoren, dass die Institutsbibliotheken mittlerweile so gespenstisch menschenleer sind wie die Innenstädte im ersten Lockdown. Keiner investiert mehr ganze Nachmittage damit, in einem Copyshop Texte zu kopieren. Was nicht digital vorliegt, wird kaum zur Kenntnis genommen. Ganz ehrlich: Ich kann die Studis von heute schon gut verstehen.
Und das WWW selbst? Ist ein unendlich reich gefülltes Füllhorn an Wissen geworden, bei dem man nur zuzugreifen braucht. Mediatheken, Audiotheken, Archive, Wikipedia und Co: ein Paradies für neugierige Menschen. Die Frage ist, wie man diesen Schatz hebt und nutzt: Dass das Internet mehr und mehr zum Spätprogramm der Privatsender aus den Neunzigern wird, macht mich manchmal etwas traurig. Ich muss dann immer an Morgan Freeman im Thriller "Sieben" denken, der sich nächteweise in der Bibliothek versenkt - und zum Wachpersonal sagt: "Da habt ihr so viele Bücher hier. Eine Welt des Wissens. Und was tut ihr? Ihr spielt die ganze Nacht Poker!"
Gehen Sie doch mal wieder in der Wikipedia stöbern und machen Sie sich so richtig klug zu einem Thema :-)

Meine Zeitung, meine Meinung

Ob ein geharnischter Kommentar in einer überregionalen Zeitung oder eine energische Diskussionsrunde abends im Fernsehen - vor der Zeit des World Wide Web verpufften sie meistens, wenn sie über das eigene weltanschauliche Milieu überhaupt hinausgingen (FAZ-Abonnenten lasen selten die taz und umgekehrt). In Zeitungsarchiven stöberten nur Historiker (oder einfach unfassbare Nerds).
Heute hingegen ist das (zumindest für das spezifische Milieu der Medienjunkies, die das WWW hervorgebracht hat) vollkommen normal: Dass wir völlig selbstverständlich aus einem breiten Publikationsangebot schöpfen, alte Artikel nachlesen - und uns in den Arenen der Meinungsbildung Scharmützel mit der politisch anderen Seite liefern. Heute sprechen die verschiedenen gesellschaftlichen Milieus viel intensiver miteinander als "damals".
Machen Sie mal die Probe aufs Exempel: Wären ein paar Straßenblockierer in Berlin im Jahr 1990 wirklich derart zu einem politischen Reizthema geworden wie das derzeit mit der "Letzten Generation" der Fall ist? Hätten Sie davon überhaupt Notiz genommen? Das hessische Lesepublikum hätte sich damals wohl sehr gewundert, wenn ihre Frankfurter Allgemeine sie zum Frühstück mit dem Aufmacher begrüßt, dass es in Berlin ein paar mehr Staus als sonst gegeben hat.

Laaaaaaaaangweilig

Ich bin ein Dorfkind der Achtziger. Und sage ganz ehrlich: Leute, ich verstehe ja, warum ihr das Dorfleben verklärt - "in der Natur leben", all diese Sachen. Aber: Es war auch wirklich ganz oft einfach nur wahnsinnig langweilig. "Geh doch draußen spielen" verliert als Ratschlag seinen Reiz, wenn man dieses "draußen" schon vor Jahren durchgespielt hat. Und im Fernsehen? Gab es einmal die Woche "Spaß am Dienstag". Blöd, wenn einem der Sinn gerade nach "Spaß am Mittwoch" stand.
Wie ist es heute? Das World Wide Web kennt keinen Sendeschluss und auch kein Programmschema. "Unendlicher Spaß" ist nicht nur der Titel eines Romans von David Foster Wallace, sondern auch die Losung im Netz. Katzenfotos, Fan Fiction, Diskussionsgruppen auf Social-Media für wirklich jedes denkbare Interesse dieser Welt (solange es nicht gegen die prüden Richtlinien verstößt): Der Satz "Ich langweile mich" ist heute im Grunde ein Fall für den Artenschutz (oder fürs lustlose Endlos-Stöbern durch die Streaming-Empfehlungen).

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

Kulturkritiker hat das übrigens schon vor dem WWW auf den Plan gerufen: "Wir amüsieren uns zu Tode" lautete der programmatische Titel einer Streitschrift des US-Medienwissenschaftlers Neil Postman. Der spießte damals vor allem das Fernsehen auf. Wenn ich mich heute mal wieder dabei ertappe, dass ich seit einer Stunde durch witzige Insta-Reels durchscrolle, packt mich dann doch manchmal der Gedanke: Ich sollte mal wieder draußen spielen!
Mehr zum Thema