Wolfgang Struck: "Flaschenpost"

Von Meeresströmungen und kolonialer Bürokratie

05:45 Minuten
Auf dem Cover ist eine alte Weltkarte zu sehen, darauf die Grafik einer Flaschenpost sowie Buchtitel und Autorenname.
© Mare Verlag

Wolfgang Struck

Flaschenpost. Frühe Botschaften, frühe Vermessungen und ein legendäres ExperimentMare Verlag, Hamburg 2022

224 Seiten

36,00 Euro

Von Günther Wessel · 21.10.2022
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Mithilfe von Flaschenposten, die genaue Koordinaten enthielten, untersuchte im 19. Jahrhundert der Physiker Georg Neumayer die Meeresströmungen. Was das Projekt uns heute über Kolonialbürokratie erzählt, zeigt Wolfgang Struck in „Flaschenpost“.
Die Flaschenpost ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Denn zum einen wurden erst mit der industriellen Fertigung Flaschen so erschwinglich, dass sie auf Schiffen mitgeführt wurden – vorher wurden alle Getränke in Fässern aufbewahrt.
Zudem war erst Mitte des 19. Jahrhunderts eine zweite Voraussetzung erfüllt: ein funktionierendes Postsystem. Denn wie sonst sollte ohne das eine zufällig irgendwo angetriebene Botschaft ihren Empfänger erreichen?

6500 Flaschen im Einsatz

So konnte der deutsche Physiker und Polarforscher Georg Neumayer 1864 sein Flaschenpostprojekt zur Erkundung der Meeresströmungen starten. Er ließ 6500 Flaschen als Driftkörper von Kapitänen auf allen Weltmeeren aussetzen. In jeder Flasche befand sich ein Formular, das an sein Institut zurückgesendet werden sollte, versehen mit den genauen Koordinaten des Fundortes.
Zuvor mussten die Kapitäne die Koordinaten eintragen, wo sie die Flaschen über Bord warfen. 600 solcher Formblätter kamen zurück, und aus ihnen berechnete Mayer erste Strömungskarten.

Poesie der Flaschenpost

Wolfgang Struck ist weniger von diesen Karten fasziniert als von den Anmerkungen, die er auf den Formularen im Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie fand. Mehr als ein Dutzend der Blätter stellt er in seinem Band vor, auch als Faksimile, und verbindet das mit klugen, oft verblüffenden Analysen: Er erzählt die Geschichte und Vorgeschichte der Flaschenpost, referiert Neumayers wissenschaftlichen Lebenslauf, und berichtet, dass dieser, um sein Flaschenpost-Experiment zu popularisieren, den Topos vom einsamen Schiffbrüchigen, der nur durch sie kommunizieren kann, bemühte.

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Struck analysiert Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Flaschenpost“ sowie Texte von Jules Verne, Edgar Allan Poe und Hans-Christian Andersen und behauptet mit Paul Celan, dass ein Gedicht und eine Flaschenpost das gleiche seien – beide richteten sich an unbekannte Empfänger und der jeweilige Autor wisse nicht, ob seine Worte richtig verstanden würden.

Bürokratische Kolonialgesellschaft

Die praktischen Belege dafür finden sich auf Neumayers Zetteln: Viele Flaschen wurden irgendwo von einem Strandgutsammler aufgelesen, den meist eher die Hülle als der Inhalt interessierte – zumal er oft keine der drei Sprachen, in denen um Rücksendung gebeten wurde, lesen konnte.
Manch Papier durchlief dann verschiedene, detailliert auf ihm aufgelistete Hierarchiestufen, bis es in ein Kolonialverwaltungsbüro gelangte und von dort über Umwege nach Hamburg gesandt wurde. Und erzählt so am Ende mehr über Bürokratie und Rangordnung der Kolonialgesellschaft als über Meeresströmungen.
Wolfgang Struck konstruiert aus kleinen Indizien lesenswerte und gut lesbare Flaschenpost-Geschichten, manchmal stark angelehnt an die dokumentierten Quellen, mitunter stärker assoziativ abschweifend. Aber immer unterhaltsam, anregend, spannend und lehrreich. 
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