Christian Grataloup: „Die Erfindung der Kontinente“

Räume, Grenzen und Entdeckungen

06:48 Minuten
Cover des Buchs „Die Erfindung der Kontinente. Eine Geschichte der Darstellung der Welt“ von Christian Grataloup.
© wbg Theiss in Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Christian Grataloup

Übersetzt von Andrea Debbou

Die Erfindung der Kontinente. Eine Geschichte der Darstellung der Weltwbg Theiss, Darmstadt 2021

256 Seiten

80,00 Euro

Von Katharina Döbler · 03.01.2022
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Der Historiker und Geograf Christian Grataloup legt in „Die Erfindung der Kontinente“ dar, wie etwa christliche Lehren über die Einteilung der Rassen, Weltgegenden und Gesellschaften die Weltkarte geprägt haben.
Geografie, das ist die Beschreibung der Erde. „Erdkunde“ sagte man früher dazu. Was wir in der Schule gelernt haben an geologischen und historischen Fakten über Länder und Kontinente scheint uns überaus haltbar und wissenschaftlich fundiert – aber dieses Wissen hat seine eigene Geschichte.
Und es beruht, so eine der zentralen Thesen des französischen Historikers und Geografen Christian Grataloup, auf im Laufe der Jahrhunderte gewachsenen Vorstellungen, die wiederum auf überkommene Mythen zurückgeht.
Unsere heutige Einteilung der Erde ist dabei auch nur ein vorläufiges Endergebnis langer Entwicklungen. Die Vermessung der Welt mag objektiv sein, ihre Darstellung in Bildern, Karten und Köpfen ist es nicht.

Europa, eine geopolitische Setzung

Dieses wunderbar üppig bebilderte Buch will „Eine Geschichte der Darstellung der Welt“ liefern – und wenn man die Einschränkung macht, dass es um eine vor allem europäische Geschichte geht, löst es dieses Versprechen auch ein.
Grataloup legt überzeugend dar, wie etwa christliche Lehren über die Einteilung der Rassen, Weltgegenden und Gesellschaften die Weltkarte geprägt haben: Die Vorstellung, es gebe auf der größten zusammenhängenden Landmasse der Erde drei Kontinente – Asien, Europa und Afrika – führt er auf eine uralte magische Dreiteilung zurück, auf den Mythos von Noah und seinen drei Söhnen, den einzigen (männlichen) Überlebenden der Sintflut.
Dem alten Asien wird die Weisheit zugeschrieben, Europa aber kriegerische Tatkraft – und Afrika der Status der Dienenden. Dass etwa der Ural die Grenze zwischen zwei Kontinenten und zwei anthropologischen Kategorien sei, ist eine geopolitische Setzung. Die, nebenbei bemerkt, den winzigen Subkontinent Europa etwas größer erscheinen lässt.

Geografische Hierarchien

So verknüpft Grataloup die rassistischen und sozialen Hierarchien, die lange Zeit als gottgewollt und selbstverständlich galten, mit der Entstehung geografischer Ordnungen. Spannend wird das mit der Landung des Kolumbus in der Karibik am Ende des 15. Jahrhunderts, mit der sich die in Europa bekannte Welt und die hiesige Kartografie rasant zu erweitern begann.
Aus regionalen Karten entwickelten sich im Zuge der sogenannten „Entdeckungen“ und der kolonialen Landnahmen immer umfassendere Welt-Darstellungen, mit zum Teil fantastischen Bildern von Menschen, Monstern und Schätzen, die anderswo angeblich existierten. Die gut kommentierten Abbildungen – von Seekarten bis zu barocken Deckengemälden – liefern hier bestes Material.

Andere Weltbilder

Ein letztes Kapitel widmet sich noch der Kartografie anderer Weltgegenden und Kulturen. Chinesische, arabische oder südamerikanische Darstellungen haben den überraschenden Effekt, dass die heutige und hiesige Betrachterin ihre Welt darin nicht findet. Und faszinierend ist, wie immer, das gesüdete Bild der Erde.
Denn nein, der Norden ist nicht, wie wir in Erdkunde gelernt haben, immer oben. Es ist das große Verdienst dieses Buches, die derzeit gültige Sicht auf die Welt als eine über Jahrhunderte entwickelte europäische Selbsterzählung zu entlarven – und andere mögliche Blickwinkel zumindest anzudeuten.
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