Wolfgang Müller: "Aus Liebe zur Kunst"

Über das Scheitern der Kunstkritik

Der Künstler Jonathan Meese führt am 26.06.2013 im Nationaltheater Mannheim (Baden-Württemberg) das Stück "Generaltanz den Erzschiller" auf. Die Performance ist Teil der 17. Internationalen Schillertage.
"Wenn wir diese Punkgesten plötzlich 30 Jahre später wiedersehen und das Gleiche unter demselben Stempel, das funktioniert nicht." © picture alliance / dpa / Uli Deck
Wolfgang Müller im Gespräch mit Frank Meyer · 27.06.2018
Der Musiker und Künstler Wolfgang Müller ärgert sich darüber, wie unkritisch Kunst rezipiert wird. "Wenn ein Künstler eine Performance macht und 'Heil Hitler' brüllt, dann wird das als Neo-Punk oder Dada bezeichnet." Da sei die Politik heutzutage provokanter.
Frank Meyer: "Aus Liebe zur Kunst", so heißt ein neues Buch aus dem Berliner Verbrecher-Verlag. Das Buch hat ein Mann mit einer schillernden Berufsvielfalt geschrieben. Wolfgang Müller heißt er. Er hat 1980 die Künstlergruppe und Band "Die tödliche Doris" mitgegründet. Er ist Musiker, Publizist, Schauspieler, Hörspielmacher, genialer Dilettant, Kurator, Missverständniswissenschaftler, Performer, Elfenexperte, Punk, Professor und Künstler. Seien Sie willkommen, Herr Müller!
Wolfgang Müller: Guten Tag!
Meyer: Bei Ihren Professionen, mindestens eine müssen Sie uns erklären. Was ist denn ein Missverständniswissenschaftler?
Müller: Das ist eigentlich eine Wortschöpfung von Marcel Beyer. Der hat eine Laudatio mal gehalten, als ich den Karl-Sczuka-Preis bekam für ein Hörspiel mit den rekonstruierten Stimmen von ausgestorbenen Vogelarten.
Meyer: Der Schriftsteller Marcel Beyer.
Müller: Genau. Er hat mich als "Missverständniswissenschaftler" bezeichnet, der also sozusagen den Rahmen, in dem Forschung und solche Erklärungen stattfinden, auch noch gleich mit untersucht und Missverständnisse aufdeckt.
Meyer: Und Sie haben das offenbar dankbar übernommen.
Müller: Ja, das fand ich ganz toll. Ich war sehr geschmeichelt.
Meyer: Es gibt auch in Ihrem neuen Buch einen Text, der sich ausdrücklich auf die Missverständniswissenschaft beruft. "Zur Nabelschau" heißt dieser Text. Was hat denn die Missverständniswissenschaft zum Problem der Nabelschau beizutragen?
Müller: Einen Nabel hat jeder Mensch, und das zeigt, dass man gar nicht so individuell ist. Gerade in der Kunst wird ja Individualität und Selbstausdruck hochgehalten. Aber ich glaube, dass jeder Mensch einen Nabel hat, jeder hat eine eigene, individuelle Handschrift. Also, Kreativität ist nicht auf Künstler beschränkt. Das ist kein Bereich, wo man sozusagen sich austoben könnte für seine Kreativität, das ist ein Missverständnis. Individuell ist jeder. Man könnte auch kurz sagen, Individualität wird überbewertet.
Meyer: Ihr Buch versammelt Texte, die sind zum Teil schon erschienen, in Kunstmagazinen, Tageszeitungen, Wochenzeitungen. Jetzt haben Sie diesem Buch einen Titel gegeben, der ist jetzt gar nicht so hip und modern, wie gerade im Kunstbereich heute oft formuliert wird, sondern der ist, wie ich finde, schön altmodisch: "Aus Liebe zur Kunst". Warum denn dieser Titel für das Buch?

"Ich liebe die Kunst"

Müller: Ich habe gemerkt, dass ich viel Rezensionen, Kritiken oder Analysen geschrieben habe und veröffentlicht habe manchmal, weil ich mich geärgert habe, über eine Ausstellung, über die kritiklose Entgegennahme einer Kunstausstellung, wo ich dachte, warum wird das nicht hinterfragt. Und dann habe ich irgendwie gemerkt, das führt oft dazu, dass man denkt, na ja, der ist jetzt vielleicht frustriert, weil er nicht so gut verkauft oder weil er nicht genug Erfolg hat, oder er meckert rum. Es wurde immer so negativ gesehen.
Und ich hab dann irgendwie gemerkt: Nein, das mache ich doch aus Liebe! Ich liebe die Kunst, ich freue mich über jede gute Ausstellung – von jemand anderem, nicht nur meine eigenen. Sondern ich freue mich wirklich, wenn jemand eine tolle Sache macht, bin echt begeistert, so wie ich als 16-Jähriger über Ornithologie begeistert war, bis heute, und interessiert jeden seltenen Vogel beobachtet habe.
Der Künstler Wolfgang Müller im Studio von Deutschlandfunk Kultur.
Der Künstler Wolfgang Müller© Deutschlandradio / Oranus Mahmoodi
Meyer: Wobei, andererseits, wenn man so durch Ihre Texte durchgeht, merkt man schon, dass "Aus Liebe zur Kunst" jetzt nicht heißt, dass Sie die Gegenwartskunst per se besonders toll finden, sondern man hat auch eher den Eindruck, dass Sie auf das System Gegenwartskunst auch sehr kritisch schauen, dass Sie sogar sagen, wenn ich das richtig verstehe, die Gegenwartskunst sei eine Art Verbündete des heutigen "Neo-Individual-Liberalismus", wie Sie das auch mal nennen. Warum das denn?
Müller: Wenn man zum Beispiel sieht, wie bestimmte Sachen rezipiert werden, wenn zum Beispiel ein Künstler eine Performance macht und "Heil Hitler" brüllt, dann wird das als Neo-Punk oder Dada bezeichnet. Und ich denke, das ist ja uralt, weil wir in der Realität heute viel schlimmere Tabubrüche – ich erinnere nur an Vogelschiss, den Begriff –
Meyer: Sie meinen Gauland zur deutschen Geschichte.

"Da ist die Politik ja noch provokanter"

Müller: Genau. Wo das dann irgendwie lächerlich dagegen wirkt. Da könnte man sagen, da ist die Politik ja noch provokanter, auf eine unangenehme Weise. Deswegen finde ich diese Aussage als Kunst völlig überflüssig. Das ist für mich keine Reflexion. Wenn wir diese Punkgesten vor 30 Jahren plötzlich 30 Jahre später wiedersehen und das Gleiche unter demselben Stempel, das funktioniert nicht.
Meyer: Und warum soll das denn – okay, man kann jetzt diskutieren, ist das gute oder schlechte Kunst, wie ist das als politische Kunst. Aber warum soll das ein Beitrag zum Neoliberalismus sein?
Müller: Weil das Ganze immer verbunden wird, also die Kunst als Bereich der Selbstentfaltung, wo man quasi Tabus aussprechen darf. Ich meine, der Jonathan Meese wurde ja von Guido Westerwelle gesammelt, interessanterweise. Also die Kunst ist dann so was wie "Hier darf man alles, hier ist so Chaos angesagt".
Aber ich finde es zum Beispiel persönlich viel interessanter, wenn man zum Thema auch Nationalismus und so weiter geht, dass die Isländer vor hundert Jahren die Melodie, die wir Deutschen als Nationalhymne haben, das war ein isländisches Weinlied, benutzt haben, vor über hundert Jahren schon, und haben dann daraus – also "Gott hat uns den Rotwein geschenkt, uns zu erfreuen, und das macht das Blut leicht. Nur Säufer und Abstinenzler hassen Wein, alle anderen lieben ihn".
Das habe ich von einem Brandenburger Chor mal singen lassen mit einem isländischen Künstler, Germanisten einstudiert, der dann (singt auf Isländisch) – ich glaube, da irritiert man mehr oder bricht man mehr auf und stellt mehr Fragen, als wenn man irgendwie diese Effekte reproduziert. Und das passiert in der Kunst ja ganz häufig.
Meyer: Ganz kurz zu unserer Nationalhymne: Das ist aber auch die Melodie von Josef Haydn, die wir auch nachnutzen für unsere deutsche Nationalhymne.
Müller: Richtig.

"Kunst ist immer politisch, per se"

Meyer: Politische Kunst, genau, haben Sie gerade schon angesprochen, mit Jonathan Meese und dieser "Heil Hitler"-Aktion von Meese. Sie schreiben, dass dezidiert politische Kunst oft "banaler, dummer Mist" sei. Und da fragt man sich jetzt beim Lesen, was will uns Herr Müller jetzt damit sagen? Will er uns sagen, dass er lieber apolitische Kunst hat, die sich nicht für die Gesellschaft interessiert, oder was? Worauf wollen Sie da hinaus?
Müller: Ich denke, Kunst ist immer politisch. Jede Entscheidung ist ja eine politische Entscheidung. Wenn zum Beispiel – ich meine, die FDP ist die einzige Partei, die ihre Farben von Grafikdesignern hat bestimmen lassen, 1972 in Düsseldorf. Die haben dann also irgendwie HKS-sowieso, blau und gelb. Weil das ist ziemlich komplementär, das ist eine schöne Farbe, das gefällt, und so weiter. Das ist ja schon ein politisches Statement.
Ich mag das jetzt gar nicht moralisch werten, weder ins Positive noch ins Negative. Aber das ist eine Entscheidung. Andere wiederum haben aus politischer Geschichte eine Farbe ausgewählt, rot, schwarz, grün und so weiter, mit Bedeutungen besetzt. Also, es ist gar nicht möglich, unpolitische Kunst zu machen. Kunst ist immer politisch, per se.
Meyer: Und wird das Problem dann, wenn Kunst ausdrücklich zur politischen Kunst erklärt wird und sie sich sozusagen in einer politischen Aussage erschöpft, sagen Sie dann, dann wird es, um Sie noch mal zu zitieren, "banaler, dummer Mist"?
Müller: Ja, sehr oft. Weil die Leute erst mal sich selbst als Person, die dann sprechen, auslassen. Also, wenn ich über etwas mache, muss ich meine eigene Position auch mitreflektieren. Es ist immer merkwürdig, wenn ich luxuriös wohne und das Elend der Welt – ich muss das irgendwie in Verbindung bekommen. Ich sage damit nicht, dass man nicht reich sein kann und ein soziales Gewissen hat und sich politisch da engagiert. Das meine ich damit nicht.
Ich meine bloß, dass man das immer einbeziehen muss, die eigenen Umstände und den eigenen Rahmen, in dem man selbst steckt. Das ist wichtig. Ich freue mich, dass Flaubert reich geerbt hat. Deswegen konnte er tolle Bücher schreiben. Aber es gibt eben auch Leute, die erben viel und machen schreckliche Sachen damit.
Meyer: Wenn wir noch mal auf Ihr Buch zurückkommen, das ist jetzt nicht chronologisch aufgebaut, es enthält so Texte aus den letzten 15, 16 Jahren Pi mal Daumen, die aber zeitlich gemixt sind. Was war Ihr Kompositionsprinzip jetzt für dieses Buch?
Müller: Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hab ja die Sachen ja erst mal sortiert. Letztes Jahr war ich irgendwie in Italien, hab dann gedacht, hier ist mal Ruhe, alte Texte anzugucken. Und dann habe ich gedacht, na ja, da sind doch viele noch, die gelten doch noch irgendwo. Die sind zwar ganz zeitverhaftet und beziehen sich auf die Zeit, aber die könnte man doch eigentlich heute noch mal lesen.
Und dann muss ich auch zugeben, dann habe ich den Verbrecher-Verlags-Leuten auch vertraut, dass die das noch mal anschauen. Ich hatte so eine Reihe, und sie haben das so ein bisschen hin- und hergeschoben. Und ich fand das alles eigentlich sehr schlüssig. Dass sie das Manifest am Schluss machen, das war okay.

"Ich finde, dass ich trotzdem immer noch recht habe"

Meyer: Genau. Ein unveröffentlichtes Manifest steht am Schluss. Es gibt eben auch unveröffentlichte Texte. Und wenn Sie sich jetzt diese Sammlung anschauen und noch mal durchlesen, fällt Ihnen da ein Wandel auf? Wolfgang Müller und wie er auf die Kunst schaut in dieser Periode der letzten 15 Jahre?
Müller: Ja, irgendwie fröhlicher, würde ich sogar sagen, optimistischer. Ich war mal irgendwo ein bisschen grimmiger und verärgerter und habe dann irgendwie aber auch lange gebraucht. Also zum Beispiel, wenn ich Damien Hearsts Sachen besprochen habe damals für eine Zeitung und dann irgendwie die Leute dachten, das könnte was für mich sein, weil ich mich für Vogelkunde oder für Tiere interessiere. Und die wussten, das ist Leidenschaft, reine Leidenschaft. Ich bin ja eben doch ein leidenschaftlicher Künstler. Ich liebe die Kunst.
Und wenn ich heute im Abstand das so sehe, sage ich, och, das habe ich eigentlich ganz gut erkannt, der ist umso berühmter danach geworden. Aber ich finde, dass ich trotzdem immer noch recht habe.
Meyer: Mit Ihrer Damien-Hirst-Kritik. Wolfgang Müller. Sein Buch heißt "Aus Liebe zur Kunst". Essays, die im Verbrecher-Verlag erschienen sind. 170 Seiten hat das Buch, der Preis 16 Euro. Vielen Dank für den Besuch, Herr Müller!
Müller: Ja, gerne, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Wolfgang Müller: Aus Liebe zur Kunst. Essays
Broschur, 168 Seiten
Preis: 16,00 €

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