Wolfgang Hagen: „Das Loch"

Ein Nichts, das Kulturgeschichte schreibt

06:23 Minuten
Buchcover zu "Das Loch" von Wolfgang Hagen
© Merve Verlag

Wolfgang Hagen

Das Loch. Beobachtungen vom Schwinden des SeinsMerve, Leipzig 2022

96 Seiten

12,00 Euro

Von Michael Opitz · 02.06.2022
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Ein Loch ist mehr als die Abwesenheit von etwas. Wolfgang Hagens Essay zeigt, welche kulturgeschichtliche Bedeutung dieses scheinbare Nichts hat: Zentralperspektive, Musikautomat, Smartphone-Kamera – ohne das Loch wären sie undenkbar.
Wer wie ein Loch säuft, trinkt zu viel. Und wer in einem Loch haust, dessen Wohnverhältnisse sind unzumutbar. Umgangssprachlich hat das Loch keinen guten Ruf. Dass sich die sprichwörtlich gewordene Leere eines jeden Lochs mit überraschenden, durchaus positiv konnotierten Bedeutungen füllen lässt, dies verdeutlicht anschaulich und auf der Basis von verschiedenen Beispielen der viel zu früh verstorbene Medientheoretiker Wolfgang Hagen (1950-2022) in einem lesenswerten Essay.  

Kurt Tucholsky als „Lochtheoretiker“

Dabei überrascht durchaus, dass es gerade der Schriftsteller und Publizist Kurt Tucholsky (1890-1935) ist, auf den sich Hagen in seiner Kulturgeschichte des Lochs bezieht. Überraschend insofern, weil Hagen dem polemischen Beobachter der Weimarer Republik eine bemerkenswerte „philosophische Tiefe“ als „Lochtheoretiker“ bescheinigt. Erhellend und zugleich weitsichtig ist, was Tucholsky in seinem Essay „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“ (1931) festhält: „Das merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts.“
Ausgehend von der Geburt der Göttin Athene aus einem Loch in Zeus’ Schädel verfolgt Hagen das Loch-Phänomen durch die Jahrhunderte und schlägt dabei einen Bogen vom Industriezeitalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Insofern greift für ihn Siegmunds Freud Definition: „Loch ist Loch“, entschieden zu kurz. Vielmehr versteht Hagen die klaffende, von Löchern hinterlassene Leere als philosophische Herausforderung. Da verschwunden ist, was das Loch einst ausfüllte, bleibt die zurückgebliebene Leere zu hinterfragen.

Durch Löcher die Welt erkennen

Allein die Feststellung, dass es sich beim Loch um ein umrandetes Nichts handelt, genügt Hagen nicht. Vielmehr muss untersucht werden, was beim Blick in oder durch ein Loch gesehen wird. So war die Perspektive gänzlich neu, die der Blick durch das Loch einer Camera obscura eröffnete. Was sie dabei sahen, übertrugen die Maler der Renaissance auf die Leinwände und revolutionierten durch die Zentralperspektive die Bildkomposition.
Hagens verständliche und durchaus mit Humor geschriebene Tiefenbohrung, schärft den Blick für die Bedeutung von Löchern bei der Welterkennung. So garantieren Löcher, präzise angeordnet, das Funktionieren von mechanischen Musikautomaten. Und mit Hilfe eines Lochprogramms ist im 19. Jahrhundert das maschinelle Weben weiterentwickelt worden.

Formlose Löcher im Computercode

Das Loch verdient es, dass ihm mit Aufmerksamkeit begegnet wird, denn es hat unsere Kultur in vielen Fällen bereichert, worauf Hagen in seinem Essay mit Nachdruck hinweist. Zugleich aber haben gegenwärtige Löcher seiner Ansicht nach einen Anteil am „Schwinden des Seins“. Als semiotische Nullzeichen in der computerbasierten technischen Welt der Jetztzeit stets präsent, sind diese Löcher Leerzeichen ohne Ikonografie und ohne Form, weshalb sich an ihnen – wie Hagen kritisch und mit einem Hauch von Melancholie anmerkt – ein Zurückweichen des realen Seins gegenüber der Formlosigkeit des Virtuellen festmachen lässt.

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