Wohnungsbau

Eine neue Zeit braucht einen neuen Stil

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"Superlofts" mit individueller Gestaltung von Marc Koehler Architects im Amsterdamer Holzhafen. © Deutschlandradio / Klaus Englert
Von Klaus Englert · 09.08.2018
Dutzendware, bei der es nur auf die Rendite ankommt: So sieht Wohnungsbau in Deutschland derzeit aus, kritisiert Klaus Englert. Dabei gäbe es Alternativen zum "Schöner Wohnen von der Stange". Architekten aus den Niederlanden machen vor, wie es gehen könnte.
Im "Mann ohne Eigenschaften" erzählt Robert Musil von den Entscheidungsnöten des Protagonisten Ulrich, der nach seinem Umzug unschlüssig ist, welches Mobiliar er aussuchen soll. Das einzige, was er weiß: Die Menschen leben in Zeiten des Umbruchs. Ulrich folgert daraus: "Eine neue Zeit braucht einen neuen Stil." Der orientierungslos gewordene Held schwankt zwischen unüberschaubaren Einrichtungsangeboten – dem assyrischen, dem kubistischen und dem Bauhausstil.

Rigipswände, Plastik und Solarpaneele

Auch wir leben heute in einer neuen Zeit – einer Zeit ständiger Umwälzungen. Und wo ist der neue Stil, der uns entspricht? Wo sind die Wohnräume und Möbel, die etwas über ihre Bewohner erzählen? Ein Kritiker zog kürzlich die ernüchternde Bilanz: "Ein Haus sieht noch immer so aus wie vor 400 Jahren." Natürlich gibt es einige wesentliche Unterschiede: Was früher eine gut gemauerte Hausfassade war, ist heute hässlich und mit Styropor verklebt. Was früher Dachziegel oder Schindeln waren, ist heute glitzerndes Plastik, bestückt mit Solarpaneelen. Nicht zu vergessen: Wände aus pappmachéhaftem Rigips. Die Hausbau-Mängelliste ließe sich beliebig fortsetzen. Das Entscheidende ist aber: Die Mängel gehören zum System einer Bauindustrie, die Qualitätsstandards mit Blick auf Kosteneffizienz und Rendite immer weiter unterbietet.

Rendite bestimmt die derzeitige Architektur

Da macht es keinen Unterschied, ob man sich die neuen innerstädtischen Quartiere anschaut, die für die Besserverdienenden entstehen. Oder die uniformen, zersiedelten Vororte, die für die unteren Schichten gebaut werden. Auf beide Wohnformen haben Immobilienentwickler frühzeitig reagiert, um weitere Flächen zuzubetonieren – mit satten Gewinnen für Investoren, Architekten, Bauindustrie und Gewerke. Zum Leidwesen der Bewohner. In vielen Innenstädten können Kaufinteressenten zwischen neoklassizistisch aufgehübschten, aber überteuerten Wohnungen wählen. Während am Stadtrand das billige, im Akkord hergestellte Massivhaus Dauerkonjunktur feiert. Die meisten dieser Wohnkisten werden von großen Baufirmen en masse hergestellt – ohne Keller, ohne Bodenbelag, ohne Innenanstrich. Das nennt sich dann "schlüsselfertiges Haus". Und vor allem: Die so genannte "freie Planung" wird dem Bauherrn lediglich vorgegaukelt. Eine Wahlmöglichkeit bleibt ihm nicht.
Mini-Häuser in Almere, Niederlande. Architektin: Ana Rocha, Den Haag.
Sieht so das schöne Wohnen der Zukunft aus? Mini-Häuser in Almere.© Deutschlandradio / Klaus Englert

Gemeinsame Wohnprojekte statt normgerechter Kisten

Und wo bleiben die Alternativen zur mächtigen Bauindustrie, zu den normgerechten Kisten aus dem Katalogsortiment der Immobilienentwickler? In den letzten Jahren haben sich interessante Nischen aufgetan. In mehreren Städten schlossen sich Bauherren zu Genossenschaften zusammen, um Baukosten zu senken. Seit kurzem wird das alte Bauhaus-Motto "Wohnen fürs Existenzminimum" von jungen Architekten wiederentdeckt. Die bauten jetzt im holländischen Almere und in Ludwigsburg Minihäuser – als kleinen, schlanken Wohnturm oder als abgespecktes Patiohaus. Vieles ist mit einiger Fantasie machbar, sogar für den etwas kleineren Geldbeutel.

Umweltfreundlich, individuell und relativ preiswert

In Amsterdam hat sich ein junges Architekturbüro mit 70 Bauherren zusammengetan, um ein gemeinsames Wohnprojekt zu stemmen. Das Ungewöhnliche: Die Architekten boten jedem Bauherrn an, in einen Skelettbau jeweils fünf Meter hohe, extrem flexible Geschosswohnungen einzufügen. Jeder sollte die eigenen Wohnräume völlig eigenständig gestalten können, mit hoher oder niedriger Geschossdecke. Das Konzept ging auf. Dabei ist die Strategie nicht nur umweltfreundlich und relativ preiswert. Sie fördert die Mitsprache und Gestaltungsfreiheit der Nutzer. Mündigkeit der Bauherren heißt ja vor allem: Gedanken entwickeln, die über den eng gezogenen Spielraum eines "Schöner Wohnen" von der Stange hinausgehen.

Klaus Englert promovierte in Germanistik und Philosophie an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf, ist Journalist und Buchautor. Er schreibt für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und den Hörfunk, vornehmlich über architektonische und philosophische Themen. Des Weiteren ist er als Kurator für Architektur-Ausstellungen tätig. Seine letzten Bücher sind "Jacques Derrida" (2009) und "New Museums in Spain" (2010), "Barcelona" (DOM Publishers, 2018). In Vorbereitung ist ein Buch über die Entstehung der modernen Wohnkultur.

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