"Wohl des Kindes ist für uns der Maßstab"

Oliver Weßels im Gespräch mit Joachim Scholl |
In der Justizvollzugsanstalt Vechta in Niedersachsen können Mütter gemeinsam mit ihren Kindern einsitzen. Im geschlossenen Vollzug sollten die Kinder bei der Entlassung der Mutter nicht älter als drei Jahre sein. "Wir haben eine Warteliste", sagt Anstaltsleiter Oliver Weßels.
Joachim Scholl: Wir sind jetzt in Vechta mit dem Leiter der dortigen Justizvollzugsanstalt für Frauen, Oliver Weßels, verbunden. Guten Tag, Herr Weßels!

Oliver Weßels: Ja, Morgen, Herr Scholl!

Scholl: Diese Geschichte, die wir gerade gehört haben, die kennen Sie natürlich, Herr Weßels, kommen solche Fälle eigentlich oft vor?

Weßels: Also sie sind nicht die Regel. Problematisch ist natürlich Mütter mit Kindern, sowohl mit Müttern, die wir hier aufnehmen müssen und die zu Hause noch Kinder haben, als auch die Frage, was passiert eigentlich mit den inhaftierten Frauen, die hier ihre Kinder zur Welt bringen, das heißt in unserem benachbarten Krankenhaus, ob die dann tatsächlich gemeinsam in der Vollzugsanstalt untergebracht werden können.

Scholl: Ich meine, es gibt ja das Grundrecht der Mutter auf ihr Kind, andererseits das Recht jeden Kindes auf eine natürliche und freie Entwicklung. Sind das in dieser speziellen Lage nicht doch einander widersprechende Grundsätze?

Weßels: Also für uns steht erst mal in erster Linie im Vordergrund das Wohl des Kindes, das ergibt sich ja auch schon aus den Jugendhilfevorschriften. Das Wohl des Kindes ist für uns der Maßstab, ob eine Unterbringung hier in der Vollzugsanstalt dann auch tatsächlich das beste Mittel für das Kind ist und dann in der letzten Konsequenz auch für die Mutter. In der Regel haben wir dann die Fälle, dass Mütter auch schon vor der Geburt oder Mütter, die ihre Kinder haben zu Hause lassen müssen, nach Wegen suchen, dass entweder die Kinder bei den Großeltern, bei den Schwiegereltern oder – sofern es den noch gibt – bei dem leiblichen Vater untergebracht werden, sodass wir in der Regel zweite Wahl der Möglichkeiten sind.

Scholl: Was sind das nun für Fälle von Mutter und Kind, die Sie in Vechta betreuen?

Weßels: Nun, es muss als Erstes gegeben sein, dass die Mütter erziehungsfähig sind, das heißt also, wir arbeiten eng mit den Jugendämtern zusammen, Frage der Erziehungsfähigkeit. Es wird ein Hilfeplan aufgestellt, auch die Kinder müssen geeignet sein, um hier untergebracht zu werden, denn wir müssen auch berücksichtigen das Wohl der Kinder, die bereits untergebracht sind. Das heißt also, wir können nicht eine erziehungsunfähige Mutter, in der letzten Konsequenz womöglich eine Mutter, die wegen Kindesmisshandlung einsitzt, dann auf eine Abteilung lassen, in der Kinder betreut werden. Das verbietet sich aus meiner Sicht von selbst. Das heißt also, wir müssen uns schon darauf verlassen, dass die Mutter grundsätzlich in der Lage ist, das Kind zu betreuen, und auch das Kind muss grundsätzlich in der Lage sein, hier in der Vollzugsanstalt aufzuwachsen. So muss man es ja sehen.

Scholl: Inwieweit ist das Strafmaß entscheidend? Also bei einer Haftstrafe von zehn oder mehr Jahren kann ja wahrscheinlich dann nicht so verfahren werden, oder?

Weßels: Also wir müssen bei der Aufnahme von Mutter und Kind schon eine Prognose abgeben, wie lange dann tatsächlich die Haftstrafe ist. Eine Haftstrafe von zehn Jahren kann ja auch unter gewissen Umständen zur Halbstrafe, also nach fünf Jahren, unterbrochen werden oder auch nach dem Zweidrittelzeitpunkt. Das ist also eine Prognose, die wir dann auch gegebenenfalls in Absprache mit den zuständigen Staatsanwaltschaften zu treffen haben. Wir nehmen grundsätzlich nur auf, sofern das Kind bei der Entlassung der Mutter nicht älter als sechs Jahre alt ist. Das heißt, wir möchten den Kindern ersparen, dass sie hier in Vechta eingeschult werden und dann nach der Entlassung der Mutter womöglich am Heimatort wieder Fuß fassen müssen. Also das ist für uns die Grenze, maximal darf das Kind sechs Jahre alt sein bei dem voraussichtlichen Strafende der Mutter. Im geschlossenen Vollzug haben wir als Maßstab, das Kind sollte nicht älter als drei Jahre alt sein vor der Entlassung der Mutter beziehungsweise vor einer Verlegung in unser offenes Mutter-Kind-Heim.

Scholl: Wie sind denn der Alltag einer solchen Mutter-Kind-Beziehung in Haft aus? Wie müssen wir uns das vorstellen?

Weßels: Also auch hier müssen wir unterscheiden im geschlossenen Bereich und in dem offenen Bereich. Im geschlossenen Bereich werden die Kinder morgens von den Erzieherinnen des offenen Mutter-Kind-Bereiches abgeholt und nehmen dann an den Angeboten des offenen Mutter-Kind-Heimes teil – das ist vergleichbar mit Kindergarten oder Kleinkindgruppe – und spielen dann eben zusammen mit den Kindern des offenen Vollzuges. Die Mütter, sowohl im geschlossenen als auch im offenen Vollzug, gehen vormittags einer Beschäftigung innerhalb der Anstalt nach. Nachmittags werden die Kinder dann zurückgebracht zu den Müttern, und dann müssen die Mütter, sofern sie im offenen Vollzug sind, den Nachmittag auch außerhalb der Anstalt gestalten mit den Kindern – sei es, dass sie zu Kindergruppen, weiteren Kindergruppen gehen, zu Kleinkind-Sportveranstaltungen und so weiter und so weiter. Und hier im geschlossenen Vollzug bemühen wir uns dann natürlich auch für entsprechende Angebote, die die Eltern machen, die die Mütter machen können.

Scholl: Nun gewöhnt man sich irgendwie schwer an die Vorstellung, dass kleine Kinder oder Babys einfach hinter Gittern sind sozusagen. Kann man denn solch kleinen Kindern ein Leben im Gefängnis überhaupt zumuten?

Weßels: Ja, eine spannende Frage. Deswegen schauen wir schon genau hin, nicht nur was wir anbieten, sondern ja auch bei der Frage, wen können wir aufnehmen. Vom Grunde her ist es so – deswegen auch der Schnitt drei Jahre im geschlossenen Vollzug –, dass die Kinder noch nicht so sehr realisieren, in welchem Umfeld sie dann leben. Das heißt, unsere Bediensteten tragen keine Dienstkleidung, es ist die Abteilung auch offen, das heißt, die Kinder können sich innerhalb dieser Abteilung auch frei bewegen. Und im offenen Bereich, den würde ich eher vergleichen mit einem Mutter-Kind-Heim auch außerhalb des Vollzuges. Das heißt, wir haben da keine Gitter, auch keine Dienstkleidung und, und, und.

Scholl: Und ich meine, im geschlossenen Vollzug, gibt es dann so etwas wie, ja, kindgerechte Zelle?

Weßels: Ja. Also die Hafträume sind entsprechend groß, sie sind entsprechend ausgestattet, auf der Abteilung gibt es auch ein großes Spielzimmer, eine große Spielterrasse, also da haben wir auch entsprechende Möglichkeiten. Und wir können, wenn wir denn Angebote außerhalb des Vollzuges für die Kinder bereithalten, natürlich auch mit den Kindern, sofern die Mütter entsprechende Lockerungen haben, diese aufsuchen.

Scholl: Sie nehmen und betreuen Kinder von straffälligen Frauen bis zum Alter von sechs Jahren, haben Sie uns jetzt erzählt, haben Sie auch Erkenntnisse über die Resozialisierung dieser Mütter, darüber, wie es dann nach der Haft weiterging zusammen mit dem Kind?

Weßels: Das ist auch wieder eine spannende Frage. Sie müssen bedenken, wir haben hier Mütter, die sozusagen ja auch ausgewählt sind, das heißt, dem Grunde nach erst einmal Mütter, von denen wir ausgehen, sie sind erziehungsfähig, sie haben Verantwortung sowohl für sich als auch für das Kind übernommen, sodass dann letztendlich die Frage eines Rückfalls nicht so eindeutig beantwortet werden kann, als dass man sagt, dadurch, dass sie hier mit ihren Kindern untergebracht sind und vielleicht an entsprechenden Maßnahmen teilnehmen, würden wir auch den Rückfall minimieren. Also mal so überschlägig hatten wir in den letzten 20 Jahren knapp 240 Frauen mit ihren Kindern aufgenommen. Nach unserer Statistik überschlägig haben wir davon vielleicht 40 Frauen wiedergesehen innerhalb des Vollzuges. Daraus könnte man ja erst mal per se schließen, eine ausgesprochen geringe Rückfall ... oder eine relativ geringe Rückfallwahrscheinlichkeit, mit anderen Worten, Mütter und Kinder haben außerhalb des Vollzuges wieder Fuß gefasst. Was wir nicht wissen, ist, ob die Mütter, die bei uns mal ihre Haftzeit verbüßt haben, vielleicht in anderen Bundesländern wieder straffällig geworden sind.

Scholl: Würden Sie denn sagen, Herr Weßels, dass es bundesweit ausreichend Institutionen wie Ihre Anstalt in Vechta gibt? Also es gibt ja wenige Justizvollzugsanstalten, die also Kinder bis zu diesem Alter von sechs Jahren überhaupt aufnehmen.

Weßels: Na ja, ich kann also für unsere Anstalt sagen, wir haben eine Warteliste, das heißt, unsere Plätze sind in der Regel ausgebucht, sowohl im geschlossenen als auch im offenen Bereich. Ich glaube, derzeitiger Stand der Dinge ist, dass noch vier weitere Mütter mit ihren Kindern auf dieser Warteliste geführt werden. Das ist soweit nicht dramatisch, als dass wir natürlich mit den Staatsanwaltschaften dann entsprechende Vollstreckungsaufschübe vereinbaren. Das heißt, die Mütter müssen sich mit ihren Kindern dann erst hier stellen, wenn auch tatsächlich ein Platz frei ist. Insofern würde ich für unsere Verhältnisse sagen, unsere Platzzahl reicht erst mal aus.

Scholl: Wenn Mutter und Kind im Gefängnis sind. Das war Oliver Weßels, Leiter der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Weßels!

Weßels: Ich danke auch, gern geschehen!
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