Kinderbetreuung ohne Eltern

Das schwierige Erbe der Wochenkrippen in der DDR

Fotos von kleinen Kindern in einem Gitterbett in der Ausstellung "Wochenkrippen in der DDR" in der Kunsthalle Rostock. Die Ausstellung zeigt rund 20 Kunstwerke zum Thema, ergänzt durch Fotografien und Objekte aus ehemaligen Wochenkrippen sowie Texttafeln und Filme.
„Um mich herum waren immer Gitterstäbe“, erinnert sich die Architektin Cornelia Gloger, die zwischen 1969 und 1972 ein Wochenkrippenkind war. © picture alliance / dpa / Thomas Häntzschel
15.03.2023
Montagfrüh von der Mutti gebracht, erst Freitagabend abgeholt – dieses Leben war für Tausende Kleinkinder in der DDR Realität. Über negative Folgen für die Entwicklung der "Wochenkinder" wurde nicht gesprochen. Das ändert sich erst langsam.
In der DDR konnte man sein Kind in eine Wochenkrippe geben. Es war dann unter der Woche die ganze Zeit in der Krippe - also mit Übernachtungen - und nur am Wochenende bei den Eltern. Diese Wochenkrippen gab es von den 50er-Jahren bis zum Ende der DDR.
Kinderbetreuung in der DDR wird oft als fortschrittlich beschrieben, weil sie selbstverständlich war und Mütter dank dieser Angebote arbeiten konnten. Doch obwohl es früh ernsthafte Hinweise auf Hospitalismus bei Kindern in Wochenkrippen gab, war die Realität dieser Einrichtungen bisher wenig bekannt und wenig erforscht. Inzwischen wurden Selbsthilfegruppen in Berlin, Dresden, Leipzig und Mecklenburg-Vorpommern gegründet, in denen heute erwachsene Wochenkinder sich austauschen.
Die Kunsthalle Rostock widmet dem Thema bis zum 1. Mai 2023 die Kunstausstellung „Abgegeben - Wochenkrippen in der DDR“. Zu erleben sind Objekte aus Wochenkrippen, Fotografien, Collagen, Texte, Filme und Interviews. Die Orte der Wochenkrippen werden porträtiert, und zehn betroffene ehemalige „Wochenkrippenkinder“ kommen mit künstlerischen Interventionen zu Wort.
„Die Wochenkrippen sind in ihrer Entstehungszeit ein Kind ihrer Zeit“, sagt Antje Schunke, Kuratorin an der Kunsthalle Rostock und Koordinatorin des Projektes. In der DDR habe es einen großen Mangel an Arbeitskräften gegeben, deshalb habe man die Frauen unbedingt in die Arbeitswelt bringen wollen: „Dann musste man für die Kinderversorgung eine Lösung haben. So entstand die Idee der Wochenkrippen – sodass die Frauen in den Betrieben von Montag bis Freitag von 8 bis 18 Uhr arbeiten konnten.“

An wen wurden Krippenplätze in der DDR vergeben?

Betreuungsplätze in Wochenkrippen wurden vorrangig für die Kinder von alleinerziehenden Mütter, Studierenden oder im Schichtsystem arbeitenden Eltern vergeben. Den werktätigen Eltern sollte so die Verbindung zwischen Beruf und Elternschaft erleichtert werden.
In der Anfangszeit der DDR seien die Wochenkrippen stark in Anspruch genommen worden, berichtet die Kuratorin der Ausstellung "Abgegeben - Wochenkrippen in der DDR", Antje Schunke. Das habe aber auch daran gelegen, dass sehr viel Werbung für diese Form der Betreuung gemacht wurde. Doch sei schon sehr zeitig durch verschiedene Forschungen bekannt gewesen, „dass die Wochenkrippenkinder und auch Heimkinder besondere Auffälligkeiten in ihrem Verhalten zeigen und dass es eigentlich keine optimale Entwicklung für Kinder ist“.
In der Ausstellung «Wochenkrippen in der DDR» steht ein hölzernes Gitterbettchen im Zentrum eines Raumes.
Blick in die Ausstellung "Wochenkrippen in der DDR" in der Kunsthalle Rostock© picture alliance / dpa / Thomas Häntzschel
Demgegenüber standen aber die Nöte und Bedürfnisse von berufstätigen Frauen. Eine ehemalige Krankenschwester im Schichtdienst aus Oschatz erinnerte sich in dem MDR-Feature "Wenn Eltern zu Fremden werden" an diese qualvolle Problematik:

Als Mutti tat dir das schon weh, wenn du das Kind montags weggeschafft hast. Aber es ließ sich nicht anders machen. Und sonnabends? Da wollte sie nicht heim!

Für diese Frau wie für viele andere, gerade Alleinerziehende, war die Wochenkrippe auch so etwas wie ein Rettungsanker.

In welchem Alter wurden Kinder in der DDR in die Wochenkrippe gegeben?

In der Anfangszeit der Wochenkrippen erfolgte die Betreuung ab der sechsten Lebenswoche, später ab dem dritten Monat. In Wochenkrippen wurden Kinder nach Ende des Mutterschutzes in der Regel bis zum vollendeten dritten Lebensjahr betreut. Bis 1963 endete der Mutterschutz sechs Wochen nach der Geburt, bis 1972 acht Wochen, bis 1976 zwölf Wochen, danach 20 Wochen nach der Geburt.

Wie lange blieb ein Kind in der DDR in der Wochenkrippe?

In der Wochenkrippe wurden Kinder bis zum dritten Lebensjahr betreut. Nach dem dritten Geburtstag wechselten die Kinder in einen Kindergarten mit Tagesbetreuung oder in ein Kinderwochenheim, wo die wochenweise Unterbringung bis zur Einschulung fortgesetzt wurde.

Was bedeutete es, ein „Wochenkind“ zu sein?

Das Kind blieb an fünf Tagen und Nächten in der Woche in der Einrichtung. Es wurde montags früh in die Krippe gebracht und erst freitags abends zum Wochenende abgeholt. Es sind aber auch zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Kinder auch über das Wochenende oder an Feiertagen in der Krippe blieben. Die "Wochenkinder" wurden von ausgebildeten Erzieherinnen oder Säuglingskrankenschwestern betreut, gefüttert und versorgt.
Eine Person steht in der Rostocker Ausstellung vor einem Schaubild, das Betreuerinnen mit Kleinkindern zeigt. Darüber steht: "Kinderkrippen helfen den werktätigen Müttern."
Die Wochenkrippen in der DDR sollten werktätige Mütter entlasten. Vernachlässigt wurde dabei allerdings die Bindung der Kleinkinder zu ihren Eltern.© picture alliance / dpa / Thomas Häntzschel

Wie viele Kinder kamen in der DDR in Wochenkrippen?

Genaue Zahlen gibt es nicht, aber die Pädagogin Ute Stary, die über Wochenkrippen forscht und publiziert, geht von mindestens 100.000 Menschen aus, die bis zu drei Jahre in einer Wochenkrippe lebten. Auf dem vermutlichen Höhepunkt des Ausbaus der Wochenkrippen 1966 gab es 744 solcher Einrichtungen, davon 462 kommunale und 282 betriebliche Krippen mit einer Gesamtkapazität von 39.124 Plätzen. Durch den Ausbau von Tageskrippen sank die Platzzahl bis 1980 auf die Hälfte.

Hatte die Unterbringung in Wochenkrippen negative Folgen?

In einer Studie der Berliner Humboldt-Universität ließ die Ärztin Eva Schmidt-Kolmer Mitte der 50er-Jahre die Entwicklung von mehr als 1.700 Kindern zwischen null und drei Jahren dokumentieren, zur Stichprobe gehörten 440 Wochenkrippen-Kinder. Untersucht wurde, wie gut sich die Kinder im Raum orientieren und bewegen konnten und wie weit ihr Sprachvermögen und Sozialverhalten entwickelt war. Die Ergebnisse offenbarten gravierende Defizite bei den Wochenkrippenkindern in allen getesteten Bereichen.

Warum wurde an dem System der Wochenkrippen festgehalten?

An dem Idealbild der Berufstätigkeit beider Eltern durfte nicht gerüttelt werden. Warnende Stimmen wie die von Eva Schmidt-Kolmer verschwanden fast vollständig aus der DDR-Forschungsliteratur. Über Formen des Hospitalismus - ausdruckslos vor sich hinstarrende Kleinkinder, die ihren Oberkörper vorwärts und rückwärts schaukeln oder ihren Kopf im Gitterbett immer wieder hin und herdrehen - durfte nach dem Mauerbau 1961 nicht mehr geschrieben werden. Bis in die 80er-Jahre hinein wurde die Bindungstheorie in der DDR unterdrückt, eine Theorie, die davon ausgeht, dass jedes Kind ein angeborenes Bedürfnis nach intensiver emotionaler Nähe hat.
Quellen: Deutschlandradio, Kunsthalle Rostock, Bundeszentrale für politische Bildung, wochenkinder.de, Lotta Wieden, scr
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