Wochenkommentar

Das falsche Versprechen der Terror-Hermeneutik

Nach dem Anschlag in Istanbul: Blumen und Plakate zum Gedenken an die Opfer.
Nach dem Anschlag in Istanbul: Blumen und Plakate zum Gedenken an die Opfer. © AFP / Ozan Kose
Von Svenja Flaßpöhler · 17.01.2016
Nach dem Terroranschlag in Istanbul begann das übliche Ritual: Experten, Politiker und Journalisten überboten sich in der "Hermeneutik", also Auslegung - dem Versuch, den Sinn zu entschlüsseln. Doch das ist reiner Abwehrzauber, meint Svenja Flaßpöhler.
Kaum war die Nachricht von dem Anschlag in Istanbul und toten deutschen Touristen in der Welt, begann etwas, das jedes Mal beginnt, wenn etwas derart Schreckliches geschieht: Sicherheitsexperten, Minister und Journalisten überboten sich regelrecht in der hohen Kunst der "Hermeneutik". Der "Auslegung" also, so die deutsche Bedeutung des Wortes. Der Terrorakt wird wie ein Text gelesen, dessen Sinn es um jeden Preis zu entschlüsseln gilt. Was wollte uns der Terrorist mit seiner Tat sagen, lautet die zentrale Frage der Terrorauslegung: Der Attentäter als Autor, der uns mit seinem Werk ein mehr oder weniger gut verschlüsseltes Rätsel aufgibt.
Insbesondere die Tatsache, dass dieses Mal Deutsche die Opfer waren, wurde nach dem Anschlag schnell, ganz schnell – und wie wir nun wissen, vorschnell – zu deuten und damit einzuordnen versucht. Die Bundesrepublik ist mit einer Fregatte und Tornado-Aufklärungsjets am Krieg gegen den Islamischen Staat beteiligt, die Flugzeuge wiederum starten von türkischem Boden aus – was liegt da näher, als eine deutsche Reisegruppe im Herzen der Türkei zu ermorden? Auch ist wieder - wie bereits bei den Pariser Anschlägen - von der "Symbolkraft" des Ortes die Rede: In die Luft gesprengt hat sich der Attentäter ausgerechnet auf dem Platz vor der Hagia Sophia, der einstmals wichtigsten Kirche des Christentums, die im 15. Jahrhundert zur Moschee wurde und heute eine Sehenswürdigkeit über "alle Religionsgrenzen hinweg" darstellt - mithin Freiheit, Friede und Liberalität symbolisiert!
Den nächsten Terrorakt wird der Abwehrzauber nicht verhindern
Wer das Ziel des islamischen Terrors verstehen will, muss seine Zeichen zu deuten wissen. Und wer seine Zeichen zu deuten weiß, macht das Unfassbare fassbar, das Unbegreifbare greifbar, das Unberechenbare berechenbar. Genau dies ist das falsche Versprechen der Terrorhermeneutik: Wenn wir die Intention des IS begreifen, wenn wir verstehen, warum er wen wo getötet hat, bekommen wir wieder festen Boden unter die Füße, können Risiken kalkulieren und Reisewarnungen aussprechen. Falsch ist dieses Versprechen, weil sie einer rationalen Betrachtung nicht standhält: Der Terror lässt sich nicht berechnen. Dass Deutsche in Istanbul getötet wurden, ist wohl purer Zufall. Und dass am Dienstag der Platz vor der Hagia Sophia an der Reihe war, heißt keineswegs, dass es morgen nicht ein Aldi in Essen ist.
In der Antike war die hermeneutische Kunst das Mittel, um göttliche Botschaften zu übersetzen – etwa die kryptischen Andeutungen des Delphischen Orakels. Im Mittelalter dann wurde die Bibel zum Gegenstand hermeneutischer Anstrengung. Freizulegen war der tiefere Sinn des heiligen Textes. Auch die Terrorexegese steht in enger Verbindung zur Transzendenz. Der IS ist gleichsam ein Dämon, vor dessen Unheil uns nur noch ein Abwehrzauber schützt. Dieser Abwehrzauber ist für uns Aufgeklärte das Verstehen: der Wille zum Wissen. Den nächsten Terrorakt verhindern wird er nicht.
Mehr zum Thema