Wo Psychologie und Theologie sich begegnen
"Die Orientierung an der Sprache verbindet Psychoanalyse und Theologie" – das hat Joachim Scharfenberg gesagt, einer der Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie. Diese feiert an diesem Wochenende ihr 40. Jubiläum – und kann von sich sagen, die Theologie nicht unwesentlich verändert zu haben.
Denn eines der zentralen Anliegen der Pastoralpsychologie ist es, der Seelsorge durch psychologisch-therapeutische Ansätze eine neue Grundlage zu geben. Damit wird der Pfarrberuf vor allem auch als Kommunikationsberuf verstanden. Und die Kirchen haben in den vergangenen Jahrzehnten Beratungsstellen aufgebaut, an die sich Menschen in Lebenskrisen wenden können. Arne Reul ist dieser Verbindung zwischen Psychologie und Theologie nachgegangen.
"Was versteht der einzelne Pfarrer, der einzelne Seelsorgende unter Seelsorge. Versteht der aus der Bibel vorlesen, mit dem betreffenden Menschen zu singen oder verstehen wir darunter, sich auf die Not des anderen einzulassen und ihn da abzuholen, wo er ist. Ich bin selber Krankenhaus-Seelsorger mit einer halben Stelle und viele Menschen haben mit Religion nichts am Hut. Da könnte ich also nicht sagen: So, nun wollen wir mal beten, nun werden Sie mal stille und erzählen Sie mir hier nix – das geht natürlich nicht."
Der Theologe und Seelsorger Walter Hykel leitet die Lebensberatung am Berliner Dom. Hier finden Menschen in Krisen unabhängig von ihrer Religion, Nationalität oder Weltanschauung Gesprächsangebote. Bundesweit 600 Beratungsstellen betreibt die evangelische Kirche, die katholische Kirche knapp 400. Jährlich nehmen rund 700 000 Menschen ihr Angebot wahr.
Der große Zuspruch, den die kirchlichen Beratungsstellen erfahren, mag überraschen, angesichts der Tatsache, dass sich in Deutschland die moderne Seelsorge erst spät, ab Mitte der 60er Jahre entwickelte. Zuvor konzentrierte sich seelsorgerliche Arbeit hauptsächlich auf Verkündigung christlicher Glaubensinhalte, dabei spielten menschliche Konflikte und Krisen eine sehr untergeordnete Rolle.
Doch der Protest und die Aufbruchstimmung, die im Zuge der 68er Bewegung viele gesellschaftliche Bereiche veränderte, machten auch bei den Kirchen nicht halt. Nicht zuletzt Willy Brandts Wahlkampfmotto "Mehr Demokratie wagen" motivierte junge, kritische Theologen. Der bislang als Einbahnstraße verstandene Verkündigungsauftrag der Pfarrer sollte aufgebrochen werden und zwar zugunsten neuer Kommunikationsprozesse, wie sie sich bereits in der Psychologie, Soziologie und Pädagogik durchsetzten. Die kirchliche Praxis, so die damalige Forderung, müsse sich mehr nach der Alltagserfahrung und Lebenswelt der Menschen richten. Einer der Vordenker der Seelsorgebewegung, der Theologe Hans-Christoph Piper formulierte:
"Wir werden den Menschen, den wir in unserer Predigt, in unseren Gemeindekreisen und volksmissionarischen Veranstaltungen nicht mehr erreichen, nur noch in einem persönlichen Gespräch begegnen können."
Der Seelsorge wurde nun eine neue Schlüsselrolle zugeschrieben, sie sollte mit Hilfe psychotherapeutischer Methoden kompetent auf die Erwartungen und Bedürfnisse der Menschen eingehen. Vorbilder hierfür kamen vor allem aus den USA, wo bereits seit Jahrzehnten im Rahmen des sogenannten "Clinical Pastoral Training" Theologen sehr praxisnah ausgebildet wurden. Der dort verwendete Begriff der Pastoralpsychologie bürgerte sich dann auch in Deutschland ein. Seelsorge, so die Überzeugung, gewinnt eine neue Bedeutung, wenn sie Elemente aus der Psychologie aufnimmt. Methoden der Gruppendynamik und Kommunikationstheorie sollten ferner dazu beitragen, auch die Kommunikation innerhalb der Kirche zu verbessern. In Frankfurt und Bethel begann die evangelische Kirche mit einer modernen Seelsorgeausbildung nach amerikanischem Vorbild und am 11. April 1972 wurde die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie gegründet. Eines ihrer ehrgeizigen Postulate lautete: "Die Seelsorgebewegung befördert einen neuen Typ Pfarrer". Dieter Wentzek:
"Ich glaube, es ist zunehmend deutlich geworden, dass Pfarrer und Pfarrerinnen eben nicht nur ausgebildet werden gute Prediger zu sein. Das ist sicherlich eine sehr zentrale Aufgabe, sondern dass sie eigentlich gerade im beruflichen Alltag, Beziehungsarbeiter sind. Das heißt in allen Feldern in Beziehung arbeiten, mit Menschen zusammen arbeiten, in denen sie durch ihr Leben, durch die Gestaltung dieser Beziehung auch den Menschen das Evangelium der Annahme und der Befreiung auch nahe bringen können. Also, es war sehr stark auch eine Auseinandersetzung zwischen Theologie und Psychologie, die da eine Rolle gespielt hat und die vielleicht wirklich dazu geführt hat, dass manche sich eben wirklich zu einem neuen Typ Pfarrer entwickelt haben."
Dieter Wentzek gehörte zu diesem neuen Typ Pfarrer. Gegen Ende seines Theologiestudiums, Mitte der 70er Jahre, hatte er das Gefühl, dem beruflichen Alltag eines Pastors noch nicht ganz gewachsen zu sein. Er wollte sich für die seelsorgliche Arbeit besser vorbereiten und studierte deshalb noch Psychologie. Als Pfarrer, Psychotherapeut und Gemeindeberater engagierte sich Wentzek dann auch in der Hospizarbeit - dort also, wo die Auseinandersetzung mit Menschen angesichts von Tod und Sterben eine besondere Herausforderung darstellt. Seit 2007 ist er Direktor des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung in Berlin, das Fort- und Weiterbildungen anbietet – nicht nur für Pfarrer und Diakone, sondern auch für Mitarbeiter von Beratungsstellen. Für Dieter Wentzek verbindet sich damit auch ein theologischer Auftrag.
"Da setzt eben auch nochmal die innerkirchliche Diskussion ein, dass wir sagen: Psychologische Beratung ist ein Teil Seelsorge, ist ein Teil des seelsorgerlichen Auftrags, den die Kirche wahrnimmt, der sich eben entfaltet in der Gemeinde, in der Gemeindeseelsorge, in der ganz alltäglichen Begleitung vor Ort, bis hin zu der Spezialseelsorge, ob Krankenhauseelsorge oder Gefängnisseelsorge oder Militärseelsorge. Aber eben auch gerade in Ehe- und Lebensfragen, in den Beratungsstellen, die es da gibt, das dort dann eben auch der Seelsorgliche Auftrag wahrgenommen wird."
Die Debatte darüber, inwieweit die psychologische Beratungsarbeit vereinbar sein soll mit einem christlich-kirchlichen Auftrag wird immer wieder neu geführt. Die kirchlichen Beratungsstellen geben Ratsuchenden unabhängig von deren Herkunft und Glauben Hilfe. Bringen die Ratsuchenden eine Offenheit für spirituelle Fragen mit, fällt die Hilfestellung jedoch oft leichter.
"Menschen, die in Krisen sind, die Lebensängste haben, die mit bestimmten Situationen nicht fertig werden und deshalb auch eine Lebensberatung aufsuchen oder Seelsorge suchen, denen kann man natürlich nicht einfach sagen, glaube nur, dann geht das alles schon - also, auf so eine platte Form gebracht. Sondern, da geht es ja darum, dass man sie zunächst einmal begleitet bei ihrem Versuch, ihr Leben zu gestalten, neue Lebensorientierung zu finden. Und da besonders sensibel zu sein, für die Grundfragen, die Grundexistenzfragen, die in jeder Krise eigentlich immer ausgelöst werden, nämlich die Frage: Wer bin ich eigentlich? Wie bin ich eigentlich geworden? Was trägt mich letztlich? Was gibt mir Halt? Wo sind eigentlich meine Bindungen? Womit fühle ich mich verbunden und wo krieg ich eigentlich meine Kraft, Lebensenergie her? Und das sind Fragen, wo ich auf die Spur komme meines religiösen und spirituellen Fundaments, was mich trägt."
Der Seelsorger Walter Hykel sieht noch einen weiteren Aspekt, den kirchliche Seelsorge leisten kann:
"Ich finde, die biblische Botschaft ist eine Botschaft der Befreiung. Befreiung von Ängsten, von Bedrückungen, von Lieblosigkeit und, und, und. Und als Kirche stehen wir in diesem Prozess mit drin! Wir berufen uns auf die Bibel, wir berufen uns auf Jesus Christus, wir stehen in der Nachfolge, also haben wir auch dafür zu sorgen, dass durch unsere gesamte kirchliche Arbeit, sei es Seelsorge, sei es Beratung, sei es Predigt, sei es Unterricht, Befreiung stattfindet. Befreiung von Ängsten, Befreiung aus Zwängen, Befreiung aus ungerechten sozialen Verhältnissen, soweit wir es in der Macht haben."
Ein Seminar am Evangelischen Zentralinstitut. Dieter Wentzek spricht mit etwa 15 Teilnehmern über das Thema Trauer und Trost. Sie diskutieren auch die Frage, wie man bei einem Trauerfall auf die Menschen eingeht und inwiefern Aspekte des Glaubens und der Spiritualität im Rahmen eines Gesprächs angebracht sind.
Dieter Wentzek:
"Was haben Sie da als tröstlich, als Trost erlebt?"
Teilnehmerin E:
"Ich bin jetzt schon relativ lange in einer Pfarrstelle und kenne wenigstens Leute vom Namen. Und dann ist das sehr viel einfacher, wenn man schon mal dagewesen ist, weil man das Enkelkind getauft hat, oder die Enkelin konfirmiert hat. Dann kann ich woanders anknüpfen. Also, immer da wo schon Beziehungen gewachsen sind, da kriegt man auch Anschluss. Und ich glaube, da erwarten die Menschen auch etwas vom Pfarrer oder von der Pfarrerin an Trost."
Zu den Seminarteilnehmern am Evangelischen Zentralinstitut, die eine Weiterbildung in psychologischer Beratung machen, gehört auch Renate Tomalik. Als Pfarrerin ist sie am städtischen Klinikum in Solingen tätig. Zu ihren Aufgaben gehören neben Andachten und Taufen auch Krisenintervention und Notfallseelsorge. Mit Menschen das Gespräch zu finden und professionell auf ihre Nöte einzugehen, fällt ihr nun, mit der psychologischen Ausbildung, leichter.
"Ich habe eigentlich die Hoffnung, dass ich sozusagen einfach sprachfähiger geworden bin, mit verschiedenen Menschen zu reden, verschiedene Lebenssituationen zu erfassen und will auch das, was ich gelernt habe und was für mich eine Ressource ist, nämlich mein Glaube und mein Halt, den ich darin empfinde, auch meinen Trost, den ich dadurch beziehe, gerne auch zur Sprache bringen. Aber so, dass die Menschen ihn verstehen. Und nicht mit dem Ziel, dass sie das, was ich glaube und was ich hoffe übernehmen müssen, sondern, dass sie zu dem finden müssen, was sie trägt, und was sie hoffen und was sie glauben können."
Anders als die Krankenhauspfarrerin Renate Tomalik arbeitet Jost Manderbach in einer städtischen Beratungsstelle in Bochum. Dennoch entschied er sich für eine Fachweiterbildung am Evangelischen Zentralinstitut. Den Kontakt zu Theologen und Pfarrern hält er für gewinnbringend – nun fühlt er sich befähigt, Menschen mit einer religiösen Orientierung besser beraten zu können. An seiner Ausbildung schätzt er aber auch das Element der Selbsterfahrung.
"Es hat natürlich auch eine sehr persönliche Dimension. Also, das ist ein Wasser, in das man eintaucht, da kommt man nach 3 Jahren nicht gleich wieder hinaus. Weil dafür gibt es eben diese tiefenpsychologische Perspektive, dafür gibt es natürlich dieses Bespiegeln der eigene Innenwelt und zu gucken, was da los ist. Und da sind wir alle durchgegangen jetzt in den letzten 3 Jahren - und auch die Teilnehmer miteinander. Da ist ein Prozess gewesen, der ist schon sehr, sehr spannend und der braucht eben auch diese 3 Jahre."
Im Prinzip unterscheidet sich eine städtische Beratungsstelle wie die von Jost Manderbach nicht allzu sehr von der Beratung, die von den Kirchen angeboten wird. Gerade in jüngster Zeit hat die Bedeutung der kirchlichen Beratungsstellen stark zugenommen, denn Menschen in Krisensituationen müssen teilweise Monate warten, bis sie einen Platz in einer psychologischen Praxis erhalten.
Hier helfen die Kirchen mit ihren Beratungsstellen die Zeit zu überbrücken, in der Regel bekommen Menschen in psychischer Not sofort Gesprächsmöglichkeiten. Allerdings sind die kirchlichen Beratungsstellen in ländlichen Regionen eher dünn gesät. Gut 40 % der Klienten der Lebensberatung am Berliner Dom kommen wegen Problemen in ihrer Partnerschaft: Streit, Entfremdung oder Trennungsgedanken. Sehr vielfältig dagegen stellen sich für Walter Hykel die Probleme anderer Klienten dar.
"Wir haben natürlich auch Leute mit Ängsten. Junge Leute, die mit Ablösungsproblemen von den Eltern kommen, aber auch manchmal ältere Menschen, also, dass es 40-50jährige gibt, die mit ihren Eltern Schwierigkeiten haben. Wir haben Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Die soziale Komponente können wir natürlich nicht regeln, aber den Umgang damit - vielleicht den seelischen, den psychologischen. Oder die Verletzungen, die das mit sich bringt - das können wir sehr wohl hier miteinander besprechen. Oder wir haben Menschen, die haben Schwierigkeiten mit Vereinsamung, Alleinsein, Kontaktschwierigkeiten. Auch psychische Erkrankungen natürlich, Psychose, Depressionen…"
Die Pastoralpsychologie hat die Seelsorge auf ein neues Fundament gestellt. Dies haben die Kirchen den therapeutischen Methoden der modernen Psychologie zu verdanken. Die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie, die an diesem Wochenende ihr 40jähriges Jubiläum feiert, ist mit evangelischen und katholischen Theologen annährend paritätisch besetzt – ein ökumenischer Erfolg.
Freilich könnte man bemängeln, dass die hohen Erwartungen der Gründungsjahre, die Kirche als Ganzes zu reformieren, nicht eingelöst wurden. Auch ist die Pastoralpsychologie nach wie vor kein obligatorisches Prüfungsfach des theologischen Examens, obwohl sich ihre Inhalte für die Theologen als fruchtbar erwiesen haben. Der ehrgeizige Anspruch, eine seelsorglich ausgerichtete Reform des Pfarramts zu erreichen, konnte so nur halbherzig verwirklicht werden.
Man könnte sich ferner wünschen, dass sich die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie noch mehr an aktuellen kirchenpolitischen Debatten beteiligt. Dennoch hat die Pastoralpsychologie geholfen, festgefahrene Denkmuster innerhalb der Kirche zu lösen. Und sie hat auch Denkanstöße für einen anderen Gottesbegriff gegeben:
"Ich finde, dass wir uns zu wenig über das Thema Gottesbild auseinandersetzen. … Immer noch heißt es: Ehre sei Gott in der Höhe und warum nicht Ehre sei Gott in der Tiefe? In der Tiefe der menschlichen Not, in der Tiefe des Glücklich-Seins, in der Tiefe der Erfahrungen. Ich würde sagen: Gott heißt es, ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Das heißt also in uns ist Gott, aber natürlich in getrübter Weise und wenn wir ein Stückchen dafür sorgen können, dass diese Trübung verschwindet und dann noch darauf vertrauen, dass es nicht nur an meiner Kraft liegt, dass diese Trübung verschwindet, dann ist das für mich Gottesglauben. Oder ich sage es anders: Gott ist auch ein Begegnungsbegriff. Da wo etwas geschieht in besonders qualifizierter Weise, da wo Menschen vielleicht sich die Hände reichen, da wo Menschen befreit werden, da wo Leute, die erlahmt sind in ihren Gewohnheiten, wieder auf die Beine kommen, da geschieht Gott. Davon bin ich überzeugt."
"Was versteht der einzelne Pfarrer, der einzelne Seelsorgende unter Seelsorge. Versteht der aus der Bibel vorlesen, mit dem betreffenden Menschen zu singen oder verstehen wir darunter, sich auf die Not des anderen einzulassen und ihn da abzuholen, wo er ist. Ich bin selber Krankenhaus-Seelsorger mit einer halben Stelle und viele Menschen haben mit Religion nichts am Hut. Da könnte ich also nicht sagen: So, nun wollen wir mal beten, nun werden Sie mal stille und erzählen Sie mir hier nix – das geht natürlich nicht."
Der Theologe und Seelsorger Walter Hykel leitet die Lebensberatung am Berliner Dom. Hier finden Menschen in Krisen unabhängig von ihrer Religion, Nationalität oder Weltanschauung Gesprächsangebote. Bundesweit 600 Beratungsstellen betreibt die evangelische Kirche, die katholische Kirche knapp 400. Jährlich nehmen rund 700 000 Menschen ihr Angebot wahr.
Der große Zuspruch, den die kirchlichen Beratungsstellen erfahren, mag überraschen, angesichts der Tatsache, dass sich in Deutschland die moderne Seelsorge erst spät, ab Mitte der 60er Jahre entwickelte. Zuvor konzentrierte sich seelsorgerliche Arbeit hauptsächlich auf Verkündigung christlicher Glaubensinhalte, dabei spielten menschliche Konflikte und Krisen eine sehr untergeordnete Rolle.
Doch der Protest und die Aufbruchstimmung, die im Zuge der 68er Bewegung viele gesellschaftliche Bereiche veränderte, machten auch bei den Kirchen nicht halt. Nicht zuletzt Willy Brandts Wahlkampfmotto "Mehr Demokratie wagen" motivierte junge, kritische Theologen. Der bislang als Einbahnstraße verstandene Verkündigungsauftrag der Pfarrer sollte aufgebrochen werden und zwar zugunsten neuer Kommunikationsprozesse, wie sie sich bereits in der Psychologie, Soziologie und Pädagogik durchsetzten. Die kirchliche Praxis, so die damalige Forderung, müsse sich mehr nach der Alltagserfahrung und Lebenswelt der Menschen richten. Einer der Vordenker der Seelsorgebewegung, der Theologe Hans-Christoph Piper formulierte:
"Wir werden den Menschen, den wir in unserer Predigt, in unseren Gemeindekreisen und volksmissionarischen Veranstaltungen nicht mehr erreichen, nur noch in einem persönlichen Gespräch begegnen können."
Der Seelsorge wurde nun eine neue Schlüsselrolle zugeschrieben, sie sollte mit Hilfe psychotherapeutischer Methoden kompetent auf die Erwartungen und Bedürfnisse der Menschen eingehen. Vorbilder hierfür kamen vor allem aus den USA, wo bereits seit Jahrzehnten im Rahmen des sogenannten "Clinical Pastoral Training" Theologen sehr praxisnah ausgebildet wurden. Der dort verwendete Begriff der Pastoralpsychologie bürgerte sich dann auch in Deutschland ein. Seelsorge, so die Überzeugung, gewinnt eine neue Bedeutung, wenn sie Elemente aus der Psychologie aufnimmt. Methoden der Gruppendynamik und Kommunikationstheorie sollten ferner dazu beitragen, auch die Kommunikation innerhalb der Kirche zu verbessern. In Frankfurt und Bethel begann die evangelische Kirche mit einer modernen Seelsorgeausbildung nach amerikanischem Vorbild und am 11. April 1972 wurde die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie gegründet. Eines ihrer ehrgeizigen Postulate lautete: "Die Seelsorgebewegung befördert einen neuen Typ Pfarrer". Dieter Wentzek:
"Ich glaube, es ist zunehmend deutlich geworden, dass Pfarrer und Pfarrerinnen eben nicht nur ausgebildet werden gute Prediger zu sein. Das ist sicherlich eine sehr zentrale Aufgabe, sondern dass sie eigentlich gerade im beruflichen Alltag, Beziehungsarbeiter sind. Das heißt in allen Feldern in Beziehung arbeiten, mit Menschen zusammen arbeiten, in denen sie durch ihr Leben, durch die Gestaltung dieser Beziehung auch den Menschen das Evangelium der Annahme und der Befreiung auch nahe bringen können. Also, es war sehr stark auch eine Auseinandersetzung zwischen Theologie und Psychologie, die da eine Rolle gespielt hat und die vielleicht wirklich dazu geführt hat, dass manche sich eben wirklich zu einem neuen Typ Pfarrer entwickelt haben."
Dieter Wentzek gehörte zu diesem neuen Typ Pfarrer. Gegen Ende seines Theologiestudiums, Mitte der 70er Jahre, hatte er das Gefühl, dem beruflichen Alltag eines Pastors noch nicht ganz gewachsen zu sein. Er wollte sich für die seelsorgliche Arbeit besser vorbereiten und studierte deshalb noch Psychologie. Als Pfarrer, Psychotherapeut und Gemeindeberater engagierte sich Wentzek dann auch in der Hospizarbeit - dort also, wo die Auseinandersetzung mit Menschen angesichts von Tod und Sterben eine besondere Herausforderung darstellt. Seit 2007 ist er Direktor des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung in Berlin, das Fort- und Weiterbildungen anbietet – nicht nur für Pfarrer und Diakone, sondern auch für Mitarbeiter von Beratungsstellen. Für Dieter Wentzek verbindet sich damit auch ein theologischer Auftrag.
"Da setzt eben auch nochmal die innerkirchliche Diskussion ein, dass wir sagen: Psychologische Beratung ist ein Teil Seelsorge, ist ein Teil des seelsorgerlichen Auftrags, den die Kirche wahrnimmt, der sich eben entfaltet in der Gemeinde, in der Gemeindeseelsorge, in der ganz alltäglichen Begleitung vor Ort, bis hin zu der Spezialseelsorge, ob Krankenhauseelsorge oder Gefängnisseelsorge oder Militärseelsorge. Aber eben auch gerade in Ehe- und Lebensfragen, in den Beratungsstellen, die es da gibt, das dort dann eben auch der Seelsorgliche Auftrag wahrgenommen wird."
Die Debatte darüber, inwieweit die psychologische Beratungsarbeit vereinbar sein soll mit einem christlich-kirchlichen Auftrag wird immer wieder neu geführt. Die kirchlichen Beratungsstellen geben Ratsuchenden unabhängig von deren Herkunft und Glauben Hilfe. Bringen die Ratsuchenden eine Offenheit für spirituelle Fragen mit, fällt die Hilfestellung jedoch oft leichter.
"Menschen, die in Krisen sind, die Lebensängste haben, die mit bestimmten Situationen nicht fertig werden und deshalb auch eine Lebensberatung aufsuchen oder Seelsorge suchen, denen kann man natürlich nicht einfach sagen, glaube nur, dann geht das alles schon - also, auf so eine platte Form gebracht. Sondern, da geht es ja darum, dass man sie zunächst einmal begleitet bei ihrem Versuch, ihr Leben zu gestalten, neue Lebensorientierung zu finden. Und da besonders sensibel zu sein, für die Grundfragen, die Grundexistenzfragen, die in jeder Krise eigentlich immer ausgelöst werden, nämlich die Frage: Wer bin ich eigentlich? Wie bin ich eigentlich geworden? Was trägt mich letztlich? Was gibt mir Halt? Wo sind eigentlich meine Bindungen? Womit fühle ich mich verbunden und wo krieg ich eigentlich meine Kraft, Lebensenergie her? Und das sind Fragen, wo ich auf die Spur komme meines religiösen und spirituellen Fundaments, was mich trägt."
Der Seelsorger Walter Hykel sieht noch einen weiteren Aspekt, den kirchliche Seelsorge leisten kann:
"Ich finde, die biblische Botschaft ist eine Botschaft der Befreiung. Befreiung von Ängsten, von Bedrückungen, von Lieblosigkeit und, und, und. Und als Kirche stehen wir in diesem Prozess mit drin! Wir berufen uns auf die Bibel, wir berufen uns auf Jesus Christus, wir stehen in der Nachfolge, also haben wir auch dafür zu sorgen, dass durch unsere gesamte kirchliche Arbeit, sei es Seelsorge, sei es Beratung, sei es Predigt, sei es Unterricht, Befreiung stattfindet. Befreiung von Ängsten, Befreiung aus Zwängen, Befreiung aus ungerechten sozialen Verhältnissen, soweit wir es in der Macht haben."
Ein Seminar am Evangelischen Zentralinstitut. Dieter Wentzek spricht mit etwa 15 Teilnehmern über das Thema Trauer und Trost. Sie diskutieren auch die Frage, wie man bei einem Trauerfall auf die Menschen eingeht und inwiefern Aspekte des Glaubens und der Spiritualität im Rahmen eines Gesprächs angebracht sind.
Dieter Wentzek:
"Was haben Sie da als tröstlich, als Trost erlebt?"
Teilnehmerin E:
"Ich bin jetzt schon relativ lange in einer Pfarrstelle und kenne wenigstens Leute vom Namen. Und dann ist das sehr viel einfacher, wenn man schon mal dagewesen ist, weil man das Enkelkind getauft hat, oder die Enkelin konfirmiert hat. Dann kann ich woanders anknüpfen. Also, immer da wo schon Beziehungen gewachsen sind, da kriegt man auch Anschluss. Und ich glaube, da erwarten die Menschen auch etwas vom Pfarrer oder von der Pfarrerin an Trost."
Zu den Seminarteilnehmern am Evangelischen Zentralinstitut, die eine Weiterbildung in psychologischer Beratung machen, gehört auch Renate Tomalik. Als Pfarrerin ist sie am städtischen Klinikum in Solingen tätig. Zu ihren Aufgaben gehören neben Andachten und Taufen auch Krisenintervention und Notfallseelsorge. Mit Menschen das Gespräch zu finden und professionell auf ihre Nöte einzugehen, fällt ihr nun, mit der psychologischen Ausbildung, leichter.
"Ich habe eigentlich die Hoffnung, dass ich sozusagen einfach sprachfähiger geworden bin, mit verschiedenen Menschen zu reden, verschiedene Lebenssituationen zu erfassen und will auch das, was ich gelernt habe und was für mich eine Ressource ist, nämlich mein Glaube und mein Halt, den ich darin empfinde, auch meinen Trost, den ich dadurch beziehe, gerne auch zur Sprache bringen. Aber so, dass die Menschen ihn verstehen. Und nicht mit dem Ziel, dass sie das, was ich glaube und was ich hoffe übernehmen müssen, sondern, dass sie zu dem finden müssen, was sie trägt, und was sie hoffen und was sie glauben können."
Anders als die Krankenhauspfarrerin Renate Tomalik arbeitet Jost Manderbach in einer städtischen Beratungsstelle in Bochum. Dennoch entschied er sich für eine Fachweiterbildung am Evangelischen Zentralinstitut. Den Kontakt zu Theologen und Pfarrern hält er für gewinnbringend – nun fühlt er sich befähigt, Menschen mit einer religiösen Orientierung besser beraten zu können. An seiner Ausbildung schätzt er aber auch das Element der Selbsterfahrung.
"Es hat natürlich auch eine sehr persönliche Dimension. Also, das ist ein Wasser, in das man eintaucht, da kommt man nach 3 Jahren nicht gleich wieder hinaus. Weil dafür gibt es eben diese tiefenpsychologische Perspektive, dafür gibt es natürlich dieses Bespiegeln der eigene Innenwelt und zu gucken, was da los ist. Und da sind wir alle durchgegangen jetzt in den letzten 3 Jahren - und auch die Teilnehmer miteinander. Da ist ein Prozess gewesen, der ist schon sehr, sehr spannend und der braucht eben auch diese 3 Jahre."
Im Prinzip unterscheidet sich eine städtische Beratungsstelle wie die von Jost Manderbach nicht allzu sehr von der Beratung, die von den Kirchen angeboten wird. Gerade in jüngster Zeit hat die Bedeutung der kirchlichen Beratungsstellen stark zugenommen, denn Menschen in Krisensituationen müssen teilweise Monate warten, bis sie einen Platz in einer psychologischen Praxis erhalten.
Hier helfen die Kirchen mit ihren Beratungsstellen die Zeit zu überbrücken, in der Regel bekommen Menschen in psychischer Not sofort Gesprächsmöglichkeiten. Allerdings sind die kirchlichen Beratungsstellen in ländlichen Regionen eher dünn gesät. Gut 40 % der Klienten der Lebensberatung am Berliner Dom kommen wegen Problemen in ihrer Partnerschaft: Streit, Entfremdung oder Trennungsgedanken. Sehr vielfältig dagegen stellen sich für Walter Hykel die Probleme anderer Klienten dar.
"Wir haben natürlich auch Leute mit Ängsten. Junge Leute, die mit Ablösungsproblemen von den Eltern kommen, aber auch manchmal ältere Menschen, also, dass es 40-50jährige gibt, die mit ihren Eltern Schwierigkeiten haben. Wir haben Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Die soziale Komponente können wir natürlich nicht regeln, aber den Umgang damit - vielleicht den seelischen, den psychologischen. Oder die Verletzungen, die das mit sich bringt - das können wir sehr wohl hier miteinander besprechen. Oder wir haben Menschen, die haben Schwierigkeiten mit Vereinsamung, Alleinsein, Kontaktschwierigkeiten. Auch psychische Erkrankungen natürlich, Psychose, Depressionen…"
Die Pastoralpsychologie hat die Seelsorge auf ein neues Fundament gestellt. Dies haben die Kirchen den therapeutischen Methoden der modernen Psychologie zu verdanken. Die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie, die an diesem Wochenende ihr 40jähriges Jubiläum feiert, ist mit evangelischen und katholischen Theologen annährend paritätisch besetzt – ein ökumenischer Erfolg.
Freilich könnte man bemängeln, dass die hohen Erwartungen der Gründungsjahre, die Kirche als Ganzes zu reformieren, nicht eingelöst wurden. Auch ist die Pastoralpsychologie nach wie vor kein obligatorisches Prüfungsfach des theologischen Examens, obwohl sich ihre Inhalte für die Theologen als fruchtbar erwiesen haben. Der ehrgeizige Anspruch, eine seelsorglich ausgerichtete Reform des Pfarramts zu erreichen, konnte so nur halbherzig verwirklicht werden.
Man könnte sich ferner wünschen, dass sich die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie noch mehr an aktuellen kirchenpolitischen Debatten beteiligt. Dennoch hat die Pastoralpsychologie geholfen, festgefahrene Denkmuster innerhalb der Kirche zu lösen. Und sie hat auch Denkanstöße für einen anderen Gottesbegriff gegeben:
"Ich finde, dass wir uns zu wenig über das Thema Gottesbild auseinandersetzen. … Immer noch heißt es: Ehre sei Gott in der Höhe und warum nicht Ehre sei Gott in der Tiefe? In der Tiefe der menschlichen Not, in der Tiefe des Glücklich-Seins, in der Tiefe der Erfahrungen. Ich würde sagen: Gott heißt es, ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Das heißt also in uns ist Gott, aber natürlich in getrübter Weise und wenn wir ein Stückchen dafür sorgen können, dass diese Trübung verschwindet und dann noch darauf vertrauen, dass es nicht nur an meiner Kraft liegt, dass diese Trübung verschwindet, dann ist das für mich Gottesglauben. Oder ich sage es anders: Gott ist auch ein Begegnungsbegriff. Da wo etwas geschieht in besonders qualifizierter Weise, da wo Menschen vielleicht sich die Hände reichen, da wo Menschen befreit werden, da wo Leute, die erlahmt sind in ihren Gewohnheiten, wieder auf die Beine kommen, da geschieht Gott. Davon bin ich überzeugt."