"Man muss den Kapitalismus nicht lieben – aber verstehen"
Die Deutschen sollten ein Gespür für die "ökonomische Grundmelodie" der Gegenwart bekommen, fordert der Wirtschaftswissenschaftler Nils Goldschmidt. Das Verständnis, wie eine moderne Marktwirtschaft funktioniert, müsse stärker vermittelt werden – auch an den Schulen.
Dieter Kassel: Es ist wirklich nicht nur ein Klischee, ich habe es selbst schon erlebt. Wenn man sich mit gebildeten Menschen irgendwo in Deutschland mal mit einem Gläschen Wein in der Hand unterhält, merkt man, dass die ziemlich viel über Kunst und Kultur, über Geschichte, vielleicht auch noch über Architektur wissen. Bei den Naturwissenschaften wird es dann schon sehr viel dünner, und wenn es dann um das Thema Wirtschaft geht, ist kaum Wissen vorhanden. Vor allen Dingen aber hat deshalb auch in der Regel keiner ein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil, man sagt sogar: So einer bin ich ja nicht, ich bin ja hier kein Gewinnmaximierer, der immer den Leitzins im Auge hat. Und dann darf man nicht die Rückfrage stellen, was ist der Leitzins überhaupt und wie kommt er zustande, denn dann wird der Wein doch relativ schnell warm in der Hand.
Dabei reden wir seit mindestens zehn Jahren, eigentlich auch schon länger, aber mindestens seit dem vorläufigen Höhepunkt der Finanzkrise darüber, dass eigentlich Wirtschaftswissen auch viel stärker als bisher zur Allgemeinbildung gehören sollte, und wir diskutieren darüber, wie sich das ändern kann. Das ist ein großes Thema nicht zuletzt auch für Nils Goldschmidt. Er ist Professor für Kontextuale Ökonomik und Ökonomische Bildung an der Universität Siegen, und er ist Direktor des dortigen Zentrums für Lehrerbildung und Bildungsforschung und unter anderem auch Mitbegründer des ersten deutschen Studiengangs für Plurale Ökonomik. Herr Goldschmidt, schönen guten Morgen!
Nils Goldschmidt: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wenn bei mir die Sicherung rausspringt, und ich kriege sie nicht wieder rein, hole ich einen Elektriker, wenn ich krank bin, hole ich einen Arzt. Wenn ich was über Geld wissen will, kann ich doch dann zu meiner Bank gehen oder, was weiß ich, die Stiftung Finanztest fragen. Warum muss ich da alles selber wissen?
Goldschmidt: Das Problem ist, dass wir tatsächlich in einer Marktwirtschaft leben, also dass die Marktwirtschaft eigentlich das zentrale System, die zentrale Schaltstelle unserer Gesellschaft ist, ob man das will oder nicht. Wenn Sie mit dem Bus fahren wollen, müssen Sie sich ein Ticket kaufen. Wenn Sie heute Abend eine Fertigpizza essen wollen, brauchen Sie Geld, um das bezahlen zu können. Sie brauchen ein Einkommen, um eine Doppelhaushälfte zu finanzieren oder das Unistudium Ihrer Kinder.
Das heißt, man muss den Kapitalismus nicht lieben, aber man muss ihn irgendwie verstehen. Ich glaube, das wäre ein Satz, den selbst Karl Marx, der in diesem Jahr so viel Gelobte, unterstreichen würde. Oder andersherum gesagt, es ist, glaube ich, fatal zu glauben, dass wir die Welt dadurch zu einem besseren Ort machen, indem wir ignorieren, wie die Welt funktioniert. Und unsere Welt ist nun mal in großen Teilen eine wirtschaftliche Welt. Deswegen brauchen wir ökonomische Bildung, deswegen braucht jeder Bürger, jede Bürgerin ein grundlegendes ökonomisches Verständnis.
"Mündig über wirtschaftliche Dinge nachdenken"
Kassel: Aber wenn Sie jetzt schon so schnell Karl Marx und Begriffe wie Kapitalismus erwähnen – kann man denn Wirtschaftswissen wirklich neutral vermitteln? Steckt da nicht immer auch eine Ideologie dahinter, je nachdem, wen man fragt?
Goldschmidt: Natürlich gibt es unterschiedliche Perspektiven, aber das gilt für die Kunstgeschichte genauso wie für die Religionswissenschaft und eben auch für die Wirtschaft. Wesentlich ist, dass wir Menschen befähigen, tatsächlich reflexiv wirtschaftliche Prozesse nachzudenken, dass sie verstehen, was dahinter steht, was die Grundprinzipien sind, was die wesentlichen Mechanismen sind. Das kann man vermitteln, genauso, wie man eben auch physikalische Dinge vermitteln kann oder das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt Wirtschaftswissen, es gibt Grundlagen, und das muss ankommen, damit man selbständig und mündig über wirtschaftliche Dinge nachdenken und auch in wirtschaftlichen Prozessen handeln kann.
Kassel: Aber was zum Beispiel würden Sie denn sagen, muss eigentlich jeder durchschnittlich gebildete Mensch in Mitteleuropa wirklich wissen über Wirtschaft?
Goldschmidt: Ich glaube, es hilft gar nicht so sehr, über die Zeit zu sprechen, jetzt zu sagen, ob wir alle Elemente von Konsumentenkrediten verstanden haben oder wissen, wie genau eine Baufinanzierung aussieht oder wie bilaterale Handelsabkommen geschlossen werden. Wichtig ist, dass man ein Gespür dafür hat, dass ökonomische Prozesse einer bestimmten Logik folgen. Dass es zum Beispiel so etwas gibt wie: in Alternativen zu denken. Das ist aus meiner Sicht ganz wesentlich, dass man grundlegend versteht, warum Freihandel von Vorteil sein kann, warum es aber auch bestimmte Bedingungen gibt, wo Freihandel eben auch Probleme schafft.
Es geht darum, ein Gespür dafür zu bekommen, eine Grundmelodie, eine ökonomische Grundmelodie auch zu haben, um bestimmte Dinge verstehen zu können - und dafür müssen wir ökonomisches Denken einüben, dafür müssen wir verstehen, wir Märkte funktionieren, dafür müssen wir verstehen, dass wirtschaftliche Entwicklungen Teil von gesellschaftlichen Prozessen sind, die eingebettet sind in politische, rechtliche und normative Dinge. Es geht also nicht so sehr um einen Grundkatalog, den man abhaken kann nach dem Motto "Ich hab jetzt Inflation verstanden, ich hab jetzt Zinsen verstanden". Das gehört natürlich auch dazu, aber es geht nicht um das Abhaken von Katalogen, sondern um das grundlegende Verstehen, wie unsere moderne Welt als Wirtschaftswelt funktioniert.
Einübung des ökonomischen Denkens
Kassel: Aber wenn Sie selbst sagen, dass diese wirtschaftlichen Verhältnisse eingebettet sind in die politischen und sozialen, gesellschaftlichen Verhältnisse, stellt sich die Frage, macht denn ein reines Schulfach Wirtschaft, wie es in Baden-Württemberg inzwischen existiert und in Nordrhein-Westfalen geplant ist, macht ein solches Fach dann wirklich Sinn, oder sollte man das nicht eher einbetten in andere Fächer wie Geschichte, wie Sozialkunde und so weiter?
Goldschmidt: Ich glaube, die Frage geht am eigentlichen Kern vorbei, und auch die Diskussion geht am Kern vorbei. Ob es unbedingt ein eigenständiges Fach Wirtschaft geben muss oder nicht. Ich glaube, zentral ist schon tatsächlich, dass man Wirtschaft als Wirtschaft unterrichtet und auch als wirtschaftliches Denken einübt. Also Wirtschaft nicht als Literaturwissenschaft, nicht nur als Geschichte oder Wirtschaft nur als Kunst, sondern es muss tatsächlich um ökonomisches Denken gehen. Wo das dann verankert ist, dieses Einüben des ökonomischen Denkens, das ist relativ egal. Das kann man auch zum Teil in einem anderen Fach machen. Aber wichtig ist, dass man tatsächlich wirtschaftliches Denken übt und einübt.
Ich denke, ein Vorteil ist, wenn man ein eigenständiges Fach Wirtschaft hat, dass natürlich dann eben dem wirtschaftlichen Denken, dem wirtschaftlichen Verstehen auch der entsprechende Raum gegeben wird. Und natürlich bedarf es auch anderer Fächer, in denen auch über wirtschaftliche Dinge gesprochen wird – Ethik, Religion, also wie soll ich mich auch in wirtschaftlichen Prozessen moralisch verhalten, in unternehmerischen Bezügen und Ähnlichem mehr. Aber wesentlich ist, dass man ökonomisches Denken einübt.
Kassel: Mir geht gerade noch eines durch den Kopf, dass teilweise ja der Bedarf daran nicht wirklich gesehen wird, aber dass viele Leute einfach so eine geringe, ich nenne es noch mal so, wirtschaftswissenschaftliche Allgemeinbildung haben – wie viel Schuld daran trägt aber auch die Wirtschaftswissenschaft selbst? Ich hab oft das Gefühl, dass Wirtschaftswissenschaftler, egal, ob an Universitäten oder in außeruniversitären Einrichtungen welcher Art auch immer, wenn diese Wirtschaftswissenschaftler jetzt nicht gerade Journalisten sind, dass die oft gar nicht das große Interesse an Vermittlung haben.
Goldschmidt: Da mögen Sie Recht haben. Ein Problem, dass wir tatsächlich in den Wirtschaftswissenschaften als Fachwissenschaft haben, ist, dass sie eben sehr weit weg ist in manchen Dingen von realen Prozessen beziehungsweise Prozessen, die jemand als Laie, wenn man das so sagen darf, zunächst einmal in den Blick nimmt. Die Wirtschaftswissenschaften als Fach selbst sind gut aufgestellt, aber sie sind eben ein Fach, das sehr formal ist, das sehr mathematisch orientiert ist, auch wenn sich da in den letzten Jahren einiges geändert hat.
Wissenschaftler sind "nicht immer sprachfähig"
Aber wir müssen dahin kommen, tatsächlich besser auch unsere wirtschaftlichen Themen zu vermitteln, auch unsere Studierenden besser auszubilden. Insbesondere gilt das aus meiner Sicht eben für die Lehramtsstudierenden, die wir, glaube ich, nicht daraufhin ausbilden, was sie nachher an den Schulen unterrichten sollen. Wir setzen die in Vorlesungen zu vertieften Kenntnissen der Makroökonomik oder Ökonometrie, aber im Zweifel hat ein angehender Lehrer oder eine angehende Lehrerin niemals einen Kurs zu sozialer Marktwirtschaft gehört, und das ist natürlich fatal, weil das ist unser Wirtschaftssystem, und das ist das, was sie später vermitteln sollen.
Wir müssen stärker darauf schauen, dass wir unsere Studierenden zielgerichteter ausbilden, auch besser ausbilden für die jeweilige Ausbildung an den Schulen. Gleichzeitig denke ich auch, dass die Fachwissenschaftler vielleicht einen breiteren Horizont bekommen sollten, was ihr eigenes Fach angeht. Wir lassen unsere Studierenden zu wenig reflektieren über die Grundlagen unseres eigenen Faches, wir wissen zu wenig über die Geschichte des ökonomischen Denkens. Wir wissen zu wenig über Wirtschaftsethik. Wir sind in vielen Dingen zwar formal gut ausgebildet, aber letztlich nicht immer sprachfähig, tatsächlich Argumente auch in die Diskussion einzubringen, um eben auch Diskurse in der Öffentlichkeit zu führen, Argumente einzubringen, das Für und Wider von bestimmten wirtschaftspolitischen Optionen darzustellen. Fragen Sie mal einen Absolventen der Wirtschaftswissenschaften, was er vom solidarischen Grundeinkommen hält. Im Zweifel werden die Antworten relativ dünn ausfallen.
Kassel: Es bleibt also viel zu tun an den Universitäten, an den Schulen, überhaupt in der Gesellschaft. Vielleicht haben wir ja Ihr Interesse an der Wirtschaft ein bisschen geweckt. Das könnte dann ein guter Grund sein, unsere Serie "Wirtschaft denken" zu hören. Die besteht aus vier Features. Die ersten beiden hören Sie heute und morgen und die anderen beiden dann nächste Woche Montag und Dienstag jeweils um 19.30 Uhr in unserer Reihe "Zeitfragen".
Jetzt gerade haben wir mit dem Wirtschaftswissenschaftler Nils Goldschmidt darüber geredet, was man eigentlich wissen sollte, und warum das so wichtig ist. Herr Goldschmidt, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und hoffe, dass wir in zehn Jahren, vielleicht schon in fünf, mal ein Gespräch darüber führen können, was sich da alles verbessert hat.
Goldschmidt: Das bleibt zu hoffen. Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.