"Wir gehen jetzt weg vom Vorabend"

Klaudia Wick im Gespräch mit Joachim Scholl · 17.12.2010
Die ARD setzt den Marienhof wegen sinkender Quoten ab. Der Kampf um jüngere Zuschauer wird nicht mehr im Vorabendprogramm ausgetragen, sagt Medienexpertin Klaudia Wick. Um eine jüngere Zielgruppe zu erreichen, müsse man für diese ab 21 oder 22 Uhr Programm machen.
Joachim Scholl: Michael Maier über das Vorabendfernsehen und das Ende des "Marienhofs", wie es jetzt von der ARD verkündet wurde. Im Mai soll Schluss sein. Im Studio begrüße ich jetzt die Fernsehkritikerin Klaudia Wick, schönen guten Morgen!

Klaudia Wick: Guten Morgen!

Scholl: Auf den Fanseiten des "Marienhofs" im Internet trauern die Fans. Sie auch, Frau Wick?

Wick: Na ja, also ich verstehe jeden Fan, der jetzt traurig ist, weil ja so eine Serie, so eine tägliche Serie ist ein Alltagsbegleiter, und wenn man mir meinen besten Freund nehmen würde, wäre ich auch sehr traurig. Aber ich bin eben nicht Fan, und deswegen trauere ich auch nicht. Ich finde es programmpolitisch völlig in Ordnung.

Scholl: Hat man den Kampf um die jungen Zuschauer in der ARD aufgegeben? Das war ja die Begründung: Man bekommt die Jungen nicht mehr vor die Glotze.

Wick: Also Fakt ist, dass man sie tatsächlich vor die Glotze nicht so bekommt, und dass auch "Türkisch für Anfänger" kein Erfolg war oder "Berlin, Berlin". Wir haben das als Kritiker alle sehr gemocht, aber die Zuschauer eben nicht. Ich glaube, dass es einen ganz einfachen Grund dafür gibt: Die jungen Leute sind um 18 Uhr gar nicht zu Hause, aber die Älteren sind zu Hause. Und deswegen wird man immer ein Produkt, ein junges Produkt nur für ältere Leute machen, und ich finde es deswegen schon schwierig, dass wir 20 Jahre lang versuchen, etwas ... einen Rattenfänger von Hameln zu konstruieren, und es kommen aber irgendwie die Kinder einfach nicht mit.

Scholl: Der "Marienhof" ist ja nicht die einzige tägliche Soap, man hätte sich ja zum Beispiel auch genauso gut von der "Verbotenen Liebe" trennen können.

Wick: Ja, es sind 20 Prozent, entschuldigen Sie, dass ich unterbreche, aber 20 Prozent mehr Leute aus Gründen, die mir jetzt auch nicht so klar sind, es ist glaube ich etwas hipper, etwas moderner gestrickt – 20 Prozent mehr schauen das. Also natürlich macht man dann das Produkt weiter, was erfolgreicher ist.

Scholl: Was hat der "Marienhof" denn anscheinend zuletzt so falsch gemacht oder die Macher?

Wick: Ja ich glaube, es ist einfach wie bei so einem Schlachtschiff, also wenn Sie ... ich habe ja gerade das Stichwort schon gesagt, Alltagsbegleiter. Also wenn Sie mit irgendwas vertraut werden, dann bleiben Sie da dran auch hängen, also für diese 1,6 Millionen ist das jetzt eben wirklich bitter, dass sie jetzt nicht mehr wissen, was sie zu dieser Uhrzeit machen sollen. Die anderen haben sich für die "Verbotene Liebe" entschieden und haben da ihre Freunde, und bleiben genauso dran kleben. Also wenn die Zuschauerbindung da ist – das sehen Sie zum Beispiel beim "Großstadtrevier", das ja seit Anno Dunnemals sendet –, dann haben Sie eine unglaublich feste Klebebindung. Und die können Sie auch nicht einfach so übertragen. Es wird auch sehr interessant sein, ob jetzt dieses Publikum vom "Marienhof", wo das jetzt hinwandert. Wandert das jetzt zum Beispiel zu RTL, zur Konkurrenz, oder wandert es tatsächlich zur "Verbotenen Liebe", weil es, das nennt man dann auch Kanalloyalität hat, also weil es eben immer das Erste einschaltet? Das ist noch relativ ungewiss.

Scholl: Aber das "Großstadtrevier" ist ja, weil Sie vorhin auch sagten, ist nicht mehr hip genug, ich meine, "Großstadtrevier" ist ja nun gar nicht nur hip, sondern es ist ja eigentlich fast antiquiert.

Wick: Ja. Ich glaube, wir sind uns auch einig, auch mit dem Programmdirektor Volker Herres: Die Idee, da junge Leute zu kriegen, ist natürlich jetzt weg, und die ist auch mit Quizshows weg, die ist mit dem "Großstadtrevier" weg und die ist auch mit dieser Idee weg, die "Verbotene Liebe" jetzt, man nennt das abgeschlossen zu erzählen, also nicht mehr mit so einem Cliffhanger zu machen, zu sagen irgendwie, wow, morgen musst du unbedingt wieder einschalten, sondern zu sagen, das war jetzt eine schöne Geschichte, und was du morgen machst, wollen wir mal sehen. Das ist eigentlich eher die Sehhaltung der älteren Leute, und ich habe es ja schon gesagt, die sind auch da. Wenn Sie junge Leute erreichen wollen, müssen Sie eigentlich um 21 Uhr Programm machen für junge Leute oder vielleicht um 22 Uhr, weil die dann überhaupt erst zu Hause sind.

Scholl: Irgendwann hatte man ja mal so das Gefühl in den letzten Jahren – und Michael Maier hat es gerade in seiner kleinen Reportage angesprochen –, dass es mal anders war in der ARD auch im Vorabendprogramm, also da gab es plötzlich Reihen wie "Berlin, Berlin" oder eben "Türkisch für Anfänger", die eben nicht nur politisch korrekt waren, sondern auch, ja, irgendwie mehr Pfiff hatten, da wurden erkennbar andere Handschriften schon im Drehbuch deutlich, es gab lauter Preise. Aber dann war wieder Ende im Gelände. Hat man sich da mit dieser Innovativität oder Innovation und Originalität verpokert oder ...

Wick: Nein, also ich meine, immerhin, "Türkisch für Anfänger" war nominiert für den Emmy, das ist ein ganz wichtiger amerikanischer Fernsehpreis, also natürlich gehört auch Klappern in dieser Weise zum Handwerk, also mal was anderes auszuprobieren ist total notwendig. Ich glaube auch, ich will jetzt die ARD gar nicht verteidigen, aber ich glaube, dass sie sich schweren Herzens von diesem Vorabendprogramm und Konzept mit jüngeren Leuten verabschiedet hat, weil sie eben immer wieder festgestellt hat: Wir kriegen die jungen Leute nicht da hin, und ich glaube, das hat einfach was damit zu tun, dass wir als junge Leute, muss man auch noch mal sagen, damit meint man jetzt nicht die 14-Jährigen unter Umständen, sondern da meint man auch noch Menschen wie mich, die unter 50 sind, also die ARD hat einen Durchschnitt von 60 Jahren, jung ist da auch noch, wer 40 oder 45 ist.

Die Leute arbeiten um sechs noch, es hat sich total viel verändert. Da ist irgendwie an dieser Stelle nichts zu holen, aber natürlich waren das tolle Projekte, die auch Preise gewonnen haben, womit die ARD noch mal gesagt hat: Wir können übrigens auch anders. Ich glaube, der nächste Schritt nach diesem Aufgeben des Vorabends ist, dass man auch noch mal abends gucken müsste, wo könnte man es denn dann hinpacken?

Scholl: Wir sind im Gespräch mit Klaudia Wick, der Fernsehkritikerin, über das Ende des "Marienhofs" und das Vorabendprogramm im Öffentlich-Rechtlichen. Es werden ja aber auch zur besten Sendezeit gern Filme und Reihen gezeigt, ja, so, die eher für gediegene Kost stehen und sehr mainstreamig sind und wenig revolutionär und trotzdem mit Erfolg, also am Dienstagabend läuft seit Jahren richtig erfolgreich die Krankenhausserie "In aller Freundschaft". Welche Zutaten machen denn diese wöchentliche Serie dann wiederum so erfolgreich?

Wick: Also da muss man natürlich sagen, das ist dann um 21 Uhr, also genau das, was ich gerade gesagt habe, stimmt dann. Wir gehen jetzt weg vom Vorabend. Es hat wirklich ... Fernsehen gucken hat wahnsinnig viel, ich kann es nur immer wiederholen, mit der Frage zu tun, wann bin ich wo, wann habe ich Lust zu entspannen, lean back nennt man das, sich zurücklehnen? Und das ist eine Serie, mit der Sie wunderbar zurücklehnen können. Sie können da jederzeit einsteigen, also ich habe es jetzt auch gerade, da war ja auch ein Jubiläum, noch mal gemacht. Ich habe schon lange nicht mehr "In aller Freundschaft" geguckt. Sie kapieren sofort, wie der Oberarzt tickt, dass die Assistentin da scharf ist auf den Chefarzt. Das sind so ganz alte Muster, und da können Sie immer einsteigen. Beim "Marienhof", Sie haben es ja eingangs wirklich ganz herrlich gesagt, alle zwei Jahre eine Defloration und alle zwei Jahre mal eine ungewollte Schwangerschaft – das ist so der Bogen, mit dem dieses Junge-Leute-Fernsehen gestrickt ist. Aber rein kommen Sie und ich, wenn wir es heute Abend schauen würden, würden wir erst mal lange nicht verstehen, worum es geht, eine durcherzählte Serie tickt da eben auch anders – für ein Fanpublikum.

Scholl: Ich würde mal sagen, ich habe das nicht herrlich gesagt, sondern ich habe das abgelesen, das stand so im Programmheft dieser Folge.

Wick: Dann ist das herrlich.

Scholl: Das war nicht meine Prosa. Aber noch mal vielleicht zurück, Frau Wick, zu den jungen Zuschauern: Deutet die Entwicklung dieser letzten Jahre auch schon an, dass generell ... dass das Fernsehen für die nachwachsende Generation vielleicht gar nicht mehr so wichtig ist? Also man hört ja immer öfter von jüngeren Leuten, die gar keinen TV-Anschluss mehr haben, weil sie Nachrichten über den PC abrufen oder DVDs angucken oder sich das aus dem Netz besorgen, und Fernsehen eigentlich, ja, out ist.

Wick: Das ist eine Frage, da könnten wir auch mal eine Sondersendung drüber machen, die ist natürlich sehr groß. Aber ich versuche es doch mal in aller Kürze zu beantworten. Ich finde, man muss unterscheiden zwischen dem: Guckt jemand Fernsehen mit dem Fernsehapparat zu Hause auf der Couch, so wie wir das vielleicht alle mal gelernt haben, oder schaut er die Produkte des Fernsehens? Und bei Youtube zum Beispiel gibt es sehr viele Produkte des Fernsehens. Die jungen Leute, das sagen die Fachleute, gucken Fernsehprodukte, aber sie gucken das jetzt im Internet und sie gucken es nicht mehr on screen.

Scholl: Gut, das heißt aber nicht, dass die Produkte sozusagen ...

Wick: Nein, das Problem ist jetzt ökonomisch: Sie müssen das Produkt erst mal irgendwo herstellen, wo Sie es auch bezahlt bekommen, im Fernsehen, dann covert es jemand ab, tut es umsonst zu Youtube, und da gucken die Leute sich das an. Was ich daran gut finde ist, dass die Helden des Fernsehens, also dass die bei den jungen Leuten immer noch bekannt sind. Das wäre ja ganz fatal, wenn die Leute überhaupt nicht mehr wüssten, wie Fernsehen geht. Aber die Leute sehen es, sie kennen diese Menschen, die es präsentieren, sie kennen die Produkte, auch der "Marienhof" und auch diese ganzen täglichen Serien werden viel im Internet abgerufen. Aber die Einschaltquoten messen die Alten, die zu Hause sitzen und Fernsehen gucken.

Scholl: Die ARD räumt den "Marienhof" ab und will das gesamte Vorabendprogramm neu strukturieren. Das war die Fernsehkritikerin Klaudia Wick, ich danke Ihnen für Ihren Besuch und das Gespräch!

Wick: Danke!
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