Santiago Lorenzo: "Wir alle sind Widerlinge"

Zurück zur Natur und gegen die Welt

05:51 Minuten
Das Buchcover von Santiago Lorenzos Roman "Wir alle sind Widerlinge" zeigt die Silhouette eines Mannes am Horizont einer Wiese, im Hintergrund eine Berglandschaft.
© Heyne / Random House

Santiago Lorenzo

Aus dem Spanischen von Daniel Müller und Karolin Viseneber

Wir alle sind WiderlingeHeyne, München 2022

240 Seiten

20,00 Euro

Von Dirk Fuhrig · 15.06.2022
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In Santiago Lorenzos gesellschaftskritischem Roman zieht ein skurriler Held aufs Land und beginnt ein Leben fernab der dauergierigen Konsumgesellschaft. Bis eines Tages eine Familie mit dickem Geländewagen in seiner Nachbarschaft auftaucht.
Ein junger Mann flieht aus der Großstadt in ein verlassenes Dorf. Die Polizei ist hinter ihm her – so glaubt er zumindest. Er kappt fast alle Brücken zur restlichen Welt. Der anfangs erzwungene Rückzug aus dem Leben wird für Manuel nach und nach zu einer frei gewählten, besseren Form der Existenz im Einklang mit der Natur.
Der Roman ist 2015 angesiedelt, einige Jahre, nachdem die Proteste der „Indignados“, der Empörten, die spanische Gesellschaft aufgerüttelt hatten. Die Kritik am Kapitalismus und an den Auswüchsen der Konsumgesellschaft, an der Immobilienwirtschaft ist deutlich spürbar. Wegen Landflucht ausgestorbene Dörfer sind ein verbreitetes Phänomen in Spanien.

Parallelen zu Robinson Crusoe

Das Setting erinnert natürlich auch an Robinson Crusoe auf seiner einsamen Insel, vor allem aber an „Walden“ von Henry David Thoreau. Man kann das Buch auch dem beliebten Genre des „Nature Writing“ zuordnen.

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Manuel ist ein unattraktiver, erfolgloser Mittzwanziger, ein Nerd. Menschliche Begegnungen hat er kaum, erotische schon gar nicht, aber noch nicht einmal freundschaftliche. Er haust in einer kleinen Kammer in Madrid. Obwohl völlig unpolitisch, wird er von einem Polizisten versehentlich für einen gewalttätigen Demonstranten gehalten.
Er verletzt den Beamten mit einem Schraubenzieher und flieht im Getümmel der Menschenmenge. Da Manuel glaubt, von Überwachungskameras aufgenommen worden zu sein, flieht er in das aufgegebene Dorf, irgendwo in den Weiten der Mancha.

Ernährt sich von Kräutern und Brunnenwasser

Nur mit seinem Onkel hält er Kontakt über ein Mobiltelefon, dessen Batterie er über ein von einer Straßenlaterne gestohlenes Solarpanel auflädt. Ein Lieferdienst bringt einmal pro Monat notwendige Lebensmittel vorbei. Nach und nach gewöhnt Manuel sich an die Isolation. Er verabschiedet sich von allem, was üblicherweise zur Zivilisation gerechnet wird, ernährt sich von Kräutern und Brunnenwasser und wäscht sich nicht mehr. Shampoo und Duschgel, so folgert er, machen den Körper nur abhängig.
Aber als eine Familie aus Madrid das Nachbarhaus als Wochenenddomizil anmietet, ist es mit der Ruhe des Einsiedlers dahin. Die Hauptstädter sind laut, fahren dicke Geländewagen, tragen teure Klamotten mit auffälligen Logos und sprechen in schablonenhafter Weise. Sie sind Abziehbilder einer konsumfixierten Spaßgesellschaft.
Der Gegensatz zur Begierde dieser wohlhabenden Städter ist das, was Manuel „Ungierde“ nennt: die Befreiung von unnötigen Bedürfnissen, zu denen er nicht nur Kleidung, Heizung, Alkohol und  Lebensmittel zählt, die über das Nötigste hinausgehen, sondern auch die Sexualität.

Ulkige Sprachspielereien

Der 1964 geborene Schriftsteller und Filmemacher Santiago Lorenzo, der selbst seit Jahren in einem winzigen Dörfchen in Nordspanien lebt, schildert seinen skurrilen Sonderling als Wiedergänger des Don Quijote. Manuel ist tatsächlich eine Art Ritter von der traurigen Gestalt.
Der Roman bezaubert durch seine poetische Sprache, die Wortneuschöpfungen und oft ulkigen Sprachspielereien: „Die Tragödie brach über ihn herein wie schlecht befestigte Bühnentechnik“, heißt es etwa. Dem kauzigen Typen Manuel wird der – von Daniel Müller und Karolin Viseneber sehr klug übersetzte – kauzige Ton sehr gerecht.
Dieser originelle, experimentelle Stil macht den Roman zu einem großen Lesevergnügen – auch wenn man das Eremiten-Szenario für stellenweise etwas sehr bemüht halten mag und das Plädoyer für den Verzicht für vielleicht allzu idealistisch. Letztlich ist der Zurück-zur-Natur-Manuel aber auch kein besserer Mensch, sondern ein „Widerling“ wie alle anderen seiner Zeitgenossen auch.
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