Winfried Hermann über Verkehrskonzepte der Zukunft

"Wir brauchen eine neue Art von Mobilität"

09:38 Minuten
Fahrrad- und E-Rollerfahrer überqueren eine Straße in Tel Aviv.
In Städten wie Tel Aviv gehören E-Scooter schon lange zum Straßenbild. © picture alliance
Moderation: Dieter Kassel |
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Autos, Fahrräder, Motorräder, Fußgänger und demnächst nun auch noch E-Scooter: Der Platz wird eng in deutschen Städten. Für Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) ist die Dominanz des Autos ein Zustand von gestern.
Ab Juni könnte es auch in Deutschland so weit sein, dass E-Scooter in Deutschland erlaubt werden. Am Freitag befasst sich der Bundesrat mit der zukünftigen Regelung. Der grüne Verkehrsminister von Baden-Württemberg, Winfried Hermann, plädiert im Deutschlandfunk Kultur für eine neue Mobilitätskultur. Die Fußgänger benötigten mehr Platz, ebenso wie Radfahrer, E-Scooter und der öffentliche Verkehr. Das könne nur zulasten der Autos gehen. Das bedeute nicht, dass es in den Städten keine Autos mehr gebe - aber sie dürften nicht mehr den Verkehr dominieren.
(gem)

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Eigentlich wollte das Bundesverkehrsministerium Roller mit Elektromotor, also die E-Scooter, auf Fußgängerwegen fahren lassen, wenn sie nicht schneller sind als zwölf Kilometer pro Stunde. Das will es aber inzwischen gar nicht mehr, die zahlreichen Proteste haben Wirkung gezeigt.
Für viele hat die Abstimmung über die Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung, die im Bundesrat ansteht, deshalb ein bisschen an Spannung verloren, was eigentlich die falsche Sichtweise ist. Es geht da durchaus noch um mehr als nur die Frage, wer genau wo fahren darf. Und über dieses Mehr wollen wir jetzt mit Winfried Hermann sprechen, dem grünen Verkehrsminister von Baden-Württemberg. Wenn jetzt doch E-Scooter nicht auf dem Fußgängerweg fahren dürfen, ist für Sie dann die Welt in Ordnung, sind alle Fragen geklärt?
Ein Mann fährt im Anzug auf seinem Elektroroller über eine Hauptstrasse in Washington DC.
In den USA dürfen Elektroroller, wie hier in Washington DC, auf der Straße fahren. © picture alliance / Ralf Hirschberger
Hermann: Natürlich noch nicht, denn es sind ja ziemlich viele E-Scooter schon unterwegs, und junge Leute fahren, aber auch ältere, und wir wollen die ja auch nicht in die Illegalität treiben. Wir haben übrigens, so wie es aussieht, auch einen gewissen Kompromiss gefunden: Die werden nicht generell verboten sein, sondern es wird den Kommunen wohl ermöglicht werden, dass sie auf Gehwegen und in Fußgängerbereichen, wo man genügend Platz hat, da können sie sie ja auch zulassen, so wie das heute schon möglich ist, dass man mit einem Fahrrad auf manchen Gehwegen auch fahren darf, wenn sie freigegeben sind.
Also es ist schon ein Problem, dass eben zu wenig Platz in den Städten ist und eben deswegen man nicht weiß, wo kommen die E-Scooter hin. Die Fahrradfahrer wollen sie auch nicht unbedingt auf ihren Radwegen haben, aber die Regelung sieht wohl jetzt so aus, dass sie im Prinzip auf den Radwegen fahren, ausnahmsweise auch auf Gehwegen, und wenn die Straße nur Tempo 30 hat, dann wohl auch auf der Straße.

Gefahr von mobilem Elektronikschrott

Kassel: Aber bei dieser Diskussion über Gehweg oder nicht ist, glaube ich, untergegangen, dass es noch ganz andere Kritik gibt. So fordert die Polizei, dass E-Scooter auch über Signalanlagen – also Signalanlagen heißt Hupe oder so was –, Beleuchtung und ordentliche Bremsen verfügen müssen. Die Hersteller selbst haben inzwischen teilweise behauptet, die bereits erhältlichen E-Scooter würden nicht den technischen Vorgaben dieser Verordnung entsprechen. Täuscht mich das oder ist das nicht doch insgesamt noch ein bisschen unausgegoren, was da jetzt auf dem Tisch liegt?
Hermann: Ja, einige Sicherheitsfragen müssen sicherlich noch geklärt werden. Deswegen hat auch das Land Baden-Württemberg einen sogenannten Initiativantrag noch in Arbeit oder möchte ihn einbringen am Freitag, dass eben solche Sicherheitsfragen geklärt werden müssen.
Auch die Technik dieser Geräte ist nicht unbedingt sicher, weil viele diese E-Scooter sind sozusagen auf kurzfristigen Verschleiß gebaut nach dem Motto: 20 mal sollten sie halten, nach 20 Fahrten können sie kaputt sein. Dann hat man sozusagen mobilen Elektronikschrott, und das sollte möglichst nicht sein.
Es sollen bestimmte Qualitätsanforderungen auch gestellt sein wie an alle Geräte, die ja auf Straßen unterwegs sind. Es ist ja auch gefährlich für die Leute, die es nutzen, und so ein Gerät einfach zusammenbricht, wenn man gerade mit 20 Kilometer unterwegs ist.
E-Scooter stehen und liegen am Naschmarkt in Wien. 
In Wien gibt es im Verleih bereits Probleme mit E-Scootern, wie hier am Naschmarkt, wo sie oft nur herumliegen. © Hans Klaus Tesch/APA/picture alliance
Kassel: Aber glauben Sie eigentlich wirklich, gerade als grüner Politiker, dass das umwelttechnisch so viel bringt? Ich meine, klar, es sind Elektromotoren, es gibt keinen CO2-Ausstoß, aber glauben Sie wirklich, dass Menschen, die bisher mit Verbrennungsmotoren gefahren sind, also auf Krafträdern und Autos, auf diese Dinge umsteigen?
Hermann: Ja, ich glaube schon. Also in vielen Großstädten der Welt sind die auch schon sichtbar, da ist es sozusagen das Gerät für die letzte Meile oder für die letzten zwei Meilen. Das kann es schon sein, muss es aber nicht sein, kann auch ein Spielzeug sein. Ich setze jetzt auch nicht alleine auf die E-Scooter, um das ganz klar zu sagen, sondern wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, es gibt viele verschiedene Transportmittel.
Es gibt ja außer den E-Scootern noch viele Varianten von Segways und so weiter, und eigentlich können die schon unsere bisherigen Mobilitätsangebote ergänzen. Nicht alles ist mit Bus und Bahn zu machen, und nicht überall wollen wir mit dem Auto hinfahren, und natürlich ist weiterhin zu Fuß gehen und Rad fahren wahrscheinlich die erste Wahl in der Stadt, aber eben halt auch solche Geräte – damit muss man, glaube ich, auch leben. Ich kann mir gut vorstellen, dass man so ein Gerät einpackt und mit der S-Bahn weiterfährt, also es könnte schon auch eine Funktion haben.

Das Auto dominiert auch die Fläche

Kassel: Was aber natürlich ein Problem verschärft, das Sie bereits in Ihrer ersten Antwort schon genannt haben, nämlich dass die Verkehrsräume immer stärker ausgelastet sind in den Städten in Deutschland, nicht nur in den ganzen großen, das geht auch in mittleren los: durch die Fahrzeuge, die wir jetzt schon haben, durch öffentlichen Nahverkehr, der oft keine eigenen Fahrbahnen hat, und durch das, was alles noch kommt. Wie wollen Sie dem begegnen?
Hermann: Also wahr ist, dass wir quasi den Platz nur einmal haben in der Stadt und ihn nicht dreimal vergeben können, jedenfalls wird es dann sehr schwierig. Im Moment haben wir immer noch eine große Dominanz des Autos, und das Auto ist nicht nur dominierend im System des Verkehrs, sondern das Auto dominiert auch die Fläche. Das heißt, die Autos brauchen viel Platz zum Fahren und viel Platz zum Stehen. Viele verkehrsberuhigte Straßen sind faktisch Parkplätze geworden, also auch hässlich, und das muss sich ändern.
Fast in allen Kommunen gibt es eine Diskussion, müsst ihr/müssen wir die Autos nicht zurückdrängen, es gibt die Diskussion etwa auch in Stuttgart, dass man nicht den Innenstadtbereich stärker autofrei macht. Solche Diskussionen sind, glaube ich, wichtig, dass die Fußgängerzonen erweitert werden zu autofreien oder fast autofreien größeren Innenstadtbereichen.
Fußgänger brauchen mehr Platz, Radfahrer, E-Scooter brauchen mehr Platz und der öffentliche Verkehr auch. Und das kann nur aus meiner Sicht zulasten des Autos gehen, was bisher überwiegend den Platz für sich beansprucht und eigentlich privilegiert ist bisher, und diese Privilegien müssen wir zurückschneiden. Das heißt nicht, dass es keine Autos gibt, aber es darf nicht mehr so dominant Auto sein.
Autos parken am Straßenrand in der Hagedornstraße in der Eisenbahnsiedlung in Johannisthal, einem Ortsteil im Bezirk Treptow-Köpenick von Berlin.
Wie hier in Berlin beanspruchen Autos in den Städten sehr viel Parkraum. © Soeren Stache/dpa/picture alliance
Kassel: Aber da stellt sich natürlich gerade in Baden-Württemberg doch sofort die Wirtschaftsfrage. Ich meine, Sie haben zwei sehr, sehr große, mächtige Automobilkonzerne in Ihrem Bundesland, die werden das doch nicht so gern hören, wenn Sie sagen, wir wollen eure Produkte ein bisschen raus haben aus der Stadt.
Hermann: Die Diskussion gibt es natürlich, aber nicht nur wegen der Konzerne natürlich. Die Menschen selber sind ja auch mit dem Auto groß geworden und haben sozusagen die Erfahrung gemacht, Auto fahren darfst du überall und parken darfst du auch überall und kosten soll es auch nichts. Also diese Gewohnheiten sind schon da, und dann kommen die neuen Ideen.
Auch in jedem Automobilkonzern werden Zukunftskonzepte diskutiert, und eigentlich alle gehen davon aus, dass wir mehr Lebensqualitäten, mehr Lebenskultur, mehr Sicherheit innerhalb der Städte und auch der Dörfer haben, dass wir die Stadt der kurzen Wege brauchen und dass wir wirklich eine neue Art von Mobilität, auch eine selbstaktive Mobilität – zu Fuß gehen, mit dem Rad fahren oder auch mit einem Scooter, ob mit oder ohne Batterie.
Das ist, glaube ich, jetzt wirklich ein guter Trend. Allzu lange hat sozusagen das Modell der Athener Charta gegolten, wir müssen die autogerechte Stadt bauen, und das ist heute kein Leitbild mehr. Aber sie dominiert immer noch, weil Asphalt und Beton halt ziemlich langlebig ist.

Mehr Rücksichtnahme

Kassel: Nun muss aber selbst ich – ich hab nicht mal einen Führerschein – mal in einem Punkt die Autofahrer in Schutz nehmen: Das Auto ist nicht die einzig mögliche Quelle enormer nervlicher Belastung und sogar Gefahr auf den Straßen. Reden wir über Rücksichtnahme, Herr Hermann. Man tut mir immer so, als sei es der böse Lkw-Fahrer, der rechts abbiegt, das kann sehr gefährlich sein für Fahrradfahrer, Fahrradfahrer können aber sehr gefährlich sein für Fußgänger und für andere Fahrer, Fußgänger können auch so auf den Fahrradweg springen, dass sie gefährlich sind, und all das – ist mein subjektiver Eindruck aus verschiedenen Städten – passiert vermehrt. Kann man eigentlich als Politiker, als Verkehrsplaner irgendwie dafür sorgen, dass die gegenseitige Rücksichtnahme wieder zunimmt?
Hermann: Unbedingt. Sie haben vollkommen recht, das beobachten wir überall, dass Autofahrer zu wenig Rücksicht nehmen und Radfahrer genauso, der Lkw-Fahrer – sozusagen in jedem Bereich gibt es die Rücksichtslosen und die Vorsichtigen, und ich wäre sehr für eine neue Mobilitätskultur, die Rücksicht nimmt, die umsichtig ist, die auch vorsichtig ist, weil sie mitbedenkt, dass die anderen vielleicht auch Fehler machen.
Wir brauchen das, denn das macht Stress, das sorgt übrigens auch für Unfälle. Und das war ja auch der Punkt, als es um die E-Scooter ging, wenn sie schnell fahren, dann nehmen sie keine Rücksicht.
Ich habe so argumentiert: Die können aber Rücksicht nehmen, sie müssen Rücksicht nehmen. Jetzt wird es anders geregelt werden, aber wir werden insgesamt im Verkehr einfach drauf pochen müssen – durch Kampagnen oder durch Überwachung der Regeln, die ja überwiegend auch der Sicherheit und auch der Vorsicht dienen –, dass die Regeln eingehalten werden.
Es ist leider eine Unkultur geworden – bei Radfahrern beobachte ich das oft –, weil sie das Gefühl haben, dass sie von Autofahrern bedroht werden, dass sie dann für sich sozusagen regellos werden nach dem Motto, "Ich bin sowieso Freiwild, also kann ich machen, was ich will.", was auch sehr gefährlich ist und was wir nicht zulassen dürfen. Auch Radfahrer müssen sich an Regeln halten und müssen Rücksicht nehmen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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