Wiltraut Rupp-von Brünneck

Von der NS-Juristin zur Vorkämpferin für den Rechtsstaat

30:15 Minuten
Richter und Richterin vom Bundesverfassungsgericht in roten Roben am Richtertisch
Sie wart die zweite Frau am Bundesverfassungsgericht und setzte sich für Gleichberechtigung ein: Waltraut Rupp-von Bruenneck (zweite von rechts). © picture-alliance / dpa
Von Annette Wilmes |
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Sie setzte sich für rechtsstaatliche Prinzipien und für die Gleichberechtigung ein: die Bundesverfassungsrichterin Wiltraut Rupp-von Brünneck. Erst später wurde bekannt, dass sie im Nationalsozialismus eine aktive Rolle gespielt hatte.
Das Bundesverfassungsgericht, das höchste deutsche Gericht, sei unbelastet, es gebe keine nationalsozialistischen Kontinuitäten, wie bei anderen Gerichten und Behörden: Dieser Mythos hat sich lange gehalten.
„Ich weiß nur, dass ich als Richterin, die 2010 gewählt wurde, mit einem gewissen Stolz in eine Institution ging, wo ich dachte: Die war auf der guten Seite“, erzählt Susanne Baer. Die Professorin für öffentliches Recht und Geschlechterstudien ist seit 2011 Richterin des Bundesverfassungsgerichts. „Und alle Vorgänger und Vorgängerinnen, deren Roben wir ja noch tragen, auf deren Stühlen wir noch sitzen, die ganz präsent sind, waren doch auf der guten Seite, waren sogar Opfer des Faschismus, jedenfalls teilweise vertrieben, dann zurückgekehrt, sozusagen ein bisschen die Helden des Grundrechtsschutzes und der Demokratie.“
Inzwischen ist herausgekommen, dass es auch bei den Bundesverfassungsrichtern Mitläufer in der NS-Zeit gab und auch überzeugte Nationalsozialisten. „Was lange bekannt war über das Bundesverfassungsgericht, ist, dass im Vergleich zu anderen Obergerichten viele ehemals verfolgte Personen Richter waren, und das sind einerseits Personen, die politisch verfolgt wurden. Andererseits sind es eben Menschen, die als jüdisch verfolgt und entrechtet wurden“, sagt Eva Balz, Historikerin beim Institut für Zeitgeschichte. Dazu gebe es einen Teil von Personen, der eigentlich sehr gut durch das Dritte Reich gekommen ist. „Der sowohl in Hinsicht auf die Karriere als auch privat und was allgemein den Statusgewinn vielleicht angeht, profitieren konnte in dieser Zeit. Und es gibt einige Personen, die nicht nur die nationalsozialistische Politik mitgetragen haben, passiv, sondern sie auch aktiv vorangetrieben und mitgestaltet haben.“

Große Verdienste um die Gleichberechtigung

Viele Jahre war das Karlsruher Richter-Kollegium fast rein männlich. Die erste Frau in der roten Robe war Erna Scheffler von 1951 bis 1963, die zweite Wiltraut Rupp-von Brünneck von 1963 bis 1977. Beide haben sich große Verdienste um die Gleichberechtigung der Frau erworben.
Wiltraut Rupp-von Brünneck ist durch ihre fortschrittlichen Sondervoten – abweichende Meinungen – bekannt geworden, in denen sie gegen die zunehmend konservative Richtermehrheit individuelle Freiheiten und gesetzgeberische Gestaltungsspielräume verteidigte.
1971 zum Beispiel brach sie mit ihrem Sondervotum im sogenannten Mephisto-Beschluss eine Lanze für die Kunstfreiheit und bezeichnete den Nationalsozialismus als Unrechtsregime, als unmenschliches, rechts- und verfassungswidriges Herrschaftssystem. Im Hochschulurteil von 1973 – Mitbestimmung an den Universitäten – und im Abtreibungsurteil 1975 – Fristenlösung zum Paragrafen 218 – wandte sie sich gemeinsam mit ihrem Richterkollegen Helmut Simon dagegen, dass durch die Rechtsprechung Gesetze aufgehoben wurden, die von der sozialliberalen Mehrheit im Bundestag beschlossen worden waren.
Die Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer in roter Robe
Susanne Baer ist seit elf Jahren Richterin des Bundesverfassungsgerichts. Ihre Vorgängerin sah sie früher als "Heldin des Grundrechtsschutzes und der Demokratie“.© picture alliance / dpa / Uli Deck
„Ich würde auch sagen, dass gerade beim Thema wie dem Schwangerschaftsabbruch das Sondervotum Wiltraut Rupp-von Brünneck eben eines der beeindruckendsten juristischen Argumentationen ist, die man in den grauen Bänden so findet“, sagt Verfassungsrichterin Susanne Baer. „Insofern hat das Geschichte geschrieben.“ In den grauen Bänden, inzwischen 157 an der Zahl, sind die Urteile und Beschlüsse veröffentlicht. Sie bilden die amtliche Sammlung des Gerichts.

Ihre Biografie überrascht

Wiltraut Rupp-von Brünneck: dass auch sie zu den Verfassungsrichtern gehört, die im Nationalsozialismus eine aktive Rolle gespielt haben, hat alle überrascht, die sie als fortschrittliche Verfechterin von Demokratie und Rechtsstaat kennengelernt hatten.
Fabian Michl ist Juniorprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Leipzig. Er forschte über eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in den 50er-Jahren und sah Akten ein, die im Bundesarchiv erstmals zugänglich waren. „Und dabei bot sich mir die Gelegenheit, auch Personalakten von Richtern einzusehen. Und in der Not, mir zwei Namen wünschen zu dürfen, habe ich die beiden ersten Frauen in Karlsruhe mir gewünscht.“ Erna Scheffler und Wiltraut Rupp-von Brünneck.“
Bei der Lektüre der Personalakten sei ihm das Leben dieser Protagonistinnen dann doch noch viel interessanter erschienen, als er es ohnehin vermutet hätte, vor allem bei Wiltraut Rupp-von Brünneck, die schon im Nationalsozialismus als Juristin tätig war. „Das ist durchaus überraschend, wenn man auf ihre späteren Sondervoten blickt, in denen sie sich mit dieser Zeit sehr kritisch auseinandersetzt.“
Fabian Michl hat eine fulminante Biografie über die Ausnahme-Juristin mit all ihren Kontinuitäten und Brüchen verfasst, die unlängst im Campus Verlag erschienen ist.

Frauen erstmals zu Rechtsberufen zugelassen

Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912 – 1977) Juristin, Spitzenbeamtin, Verfassungsrichterin: Emmi Agathe Karola Margarete Wiltraut von Brünneck, geboren 1912, stammt aus einer uradeligen Familie, ansässig in Brandenburg und Westpreußen. Sie wuchs in Berlin-Steglitz auf und verbrachte die Ferien auf dem familieneigenen Rittergut in Sachsen-Anhalt. Der Vater war 1914 im Ersten Weltkrieg umgekommen. Die Familie war republikfeindlich eingestellt.
Nach dem Abitur ging Wiltraut von Brünneck für ein Jahr auf eine landwirtschaftliche Frauenschule, bevor sie 1932 ihr Jura-Studium begann. Ihr Vater, beide Großväter und auch ihr älterer Bruder waren bereits Juristen, aber für sie als junge Frau war dieser Lebensweg nicht vorgezeichnet.
„Dass es dann ganz anders kam, das lag an den politischen Umbrüchen ihrer Jugendzeit“, sagt ihr Biograf Fabian Michl. „Dem Ersten Weltkrieg, dem Ende der Monarchie, der Gründung der Weimarer Republik, in der dann auch die Frauen erstmals zu den Rechtsberufen zugelassen werden.“ 1922, also vor genau hundert Jahren.
„Aber auch unter diesen veränderten Umständen sei es nicht selbstverständlich gewesen, als Juristin Karriere zu machen. „Dafür musste man schon Besonderes leisten, und das wollte sie stets tun und hat dies eben auf verschiedenen Wegen dann über die verschiedenen politischen Systeme hinaus zustande gebracht.“

Studierte Frauen – nach 1933 nicht erwünscht

1933 kam Hitler an die Macht, aber die junge Frau setzte ihr Jura-Studium fort. Die wenigen Studentinnen mussten sich gegen ihre männlichen Kommilitonen behaupten. Denn die NS-Propaganda betonte die „Mutterrolle“, Akademikerinnen waren nicht erwünscht.
Wiltraud von Brünneck engagierte sich in der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen, die sich gemeinsam ihren Platz als angehende Juristinnen erkämpfen wollten, allerdings nicht unter dem demokratischen Motto der „Gleichberechtigung“, denn damit wären sie nach 1933 gescheitert. „Sie bemühten vielmehr Argumente, man könnte sagen: des völkischen Denkens, das im NS-Staat ja zur dominierenden Ideologie geworden war“, sagt Fabian Michl. „Mit der Idee der Volksgemeinschaft, also dieses Zentralbegriffs, waren die Studentinnen meist auch schon von klein auf vertraut, über die familiären Hintergründe oder auch diese politische Prägung im republikfeindlichen Milieu.
Die jungen Juristinnen verwiesen auf vermeintlich natürliche Eigenschaften von Frauen, vor allem im sozialen Bereich. Juristinnen sollten zum Beispiel in der Sozialfürsorge eingesetzt werden oder im Familienrecht. „Dinge, die man sich als besonders weiblich unter den typischen Geschlechterstereotypen vorstellt“, so Michl. Aber Wiltraut Rupp-von Brünneck sei noch weiter in ihrer Argumentation gegangen: „Frauen müssen auch in der Rechtswissenschaft tätig sein, ein sehr männlich dominierter Bereich, und argumentierte dafür mit Argumenten aus der NS-Wissenschaftsideologie. Das ist schon eine sehr bemerkenswerte Argumentation, bei der man auch differenzieren muss: Wie viel ist dort taktisch und wie viel aus innerer Überzeugung? Das lässt sich mit letzter Sicherheit nicht sagen.“

Mitglied in zahlreichen NS-Vereinigungen

Als Wiltraut von Brünneck 1936 das erste juristische Staatsexamen ablegte – mit der sehr selten vergebenen Bestnote „ausgezeichnet“ – schloss die NS-Führung Frauen von den Rechtsberufen aus. Obwohl sie also kaum eine Chance auf eine Beschäftigung in der Justiz, der Verwaltung oder der Rechtsanwaltschaft sah, absolvierte sie die Referendarzeit. In dieser Zeit schrieb sie programmatische Texte ganz im Sinne der NS-Ideologie. Sie wurde Mitglied des NS-Rechtswahrerbundes, des Deutschen Frauenwerks und schließlich der NS-Frauenschaft, einer Gliederung der NSDAP.
NS-Frauenwerk im Einsatz 1940
Die NS-Frauenchaft im Einsatz 1940: Auch Wiltraut von Brünneck war Mitglied.© picture-alliance / akg-images
Das zweite Staatsexamen bestand sie 1941 ebenfalls mit der Bestnote. Zwei Jahre war sie Assistentin bei dem Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Siebert, einem überzeugten Nationalsozialisten. Sie bereitete ihre Dissertation vor, aber die Unterlagen gingen bei einem Luftangriff verloren.

Von Brünneck und die Enteignung

Schließlich erhielt sie eine Anstellung im Reichsjustizministerium, denn der Krieg führte dazu, dass die männlichen Juristen fehlten. So hatten auch Juristinnen eine Chance. „Richterinnen konnten wir nicht werden, Rechtsanwältinnen konnten wir nicht werden, und ich habe also dann 1943 die Möglichkeit gehabt, ins Reichsjustizministerium zu kommen, so für ein Grundbuchrecht und Erbrecht. Aber das war also schon ein gewisses Privileg, möchte ich sagen“, erzählte sie später in einem Radio-Interview.
Zur Regierungsrätin ernannt, übernahm Wiltraut von Brünneck die Leitung des Grundbuchreferats, nur auf den ersten Blick eine unpolitische Tätigkeit. Es ging nämlich auch um Enteignungen jüdischer Eigentümer. „Das geht auch aus den Akten eindeutig hervor“, betont Michl. „Sie selbst verweist gelegentlich auf die Eigenschaft, dass die Vorbesitzer also jüdischer Religionszugehörigkeit oder jedenfalls in der NS-Ideologie jüdisch charakterisiert wurden. Und sie gebrauchte auch den Ausdruck 'Entjudung' und versucht, damit bestimmte Verwaltungsentscheidungen zu begründen. Und da ist einem schon klar, was man da tut, vielleicht nicht in vollen Dimensionen des Holocaust, wie wir ihn heute kennen. Aber, dass sie in dieser Tätigkeit sehr tief in den Abgrund des Regimes geblickt hat, das dürfte ihr bereits in dieser Zeit klar gewesen sein. Es war ihr jedenfalls in der Rückschau klar.“

Zweite Karriere unter demokratischen Vorzeichen

Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte Wiltraut von Brünneck auf dem Rittergut in der Nähe von Sangerhausen. Hier – in der Sowjetischen Besatzungszone – konnte sie zunächst als Richterin arbeiten. Doch nach kurzer Zeit wurde sie entlassen, weil sie im Fragebogen zur Entnazifizierung wahrheitsgemäß ihre Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft angegeben hatte. Damit endet plötzlich die juristische Laufbahn“, erzählt Michl. Schon wenige Wochen später geht es aber weiter. „Sie zieht dann nach Hessen zu einer alten Studienfreundin nach Wiesbaden und kann dort sehr rasch wieder ins Justizministerium eintreten und beginnt dort ihre steile Nachkriegskarriere, diesmal aber unter demokratischen Vorzeichen.“
Die 34-jährige Juristin begann bereits 1946 ihre Laufbahn als Ministerialbeamtin im hessischen Justizministerium. Diesmal verschwieg sie ihre NS-Mitgliedschaften. Mit atemberaubender Geschwindigkeit machte sie ein zweites Mal Karriere – in einem politischen Umfeld, das sich in allem von ihrer früheren Umgebung unterschied.
Sie war im roten Hessen gelandet, unter überzeugten Demokraten. Georg-August Zinn, der Justizminister und spätere Ministerpräsident, schätzte die ausgezeichnete Juristin als wertvolle Mitarbeiterin.
Ministerialrätin Waltraut Rupp-von Brünneck 1961.
Ministerialrätin Waltraut von Brünneck und Adolf Arndt (SPD) auf dem Weg zum Sitzungssaal.© picture alliance / Fritz Fischer
„Es gibt dort auch noch andere Sozialdemokraten, wie zum Beispiel Adolf Arndt, der später der große Rechtspolitiker in der SPD-Bundestagsfraktion wird, oder Martin Drath, der später Bundesverfassungsrichter wird, die dort in diesem Wiesbaden der 40er-Jahre, der Nachkriegsjahre, der Aufbaujahre, eben diese Szene prägen und mit denen sie sehr eng zusammenarbeitet und die sie auch politisch prägen und ihr durchaus eine sozialdemokratische Prägung, wenn auch ohne Parteibuch, vermitteln“, so Michl.

Grundgesetzartikel zur Gleichberechtigung

Georg-August Zinn nahm die ausgezeichnete Juristin 1948 mit nach Bonn zu den Beratungen zum Grundgesetz. Wiltraut von Brünneck arbeitete im Parlamentarischen Rat eng mit Elisabeth Selbert zusammen und half maßgeblich dabei, den Grundgesetz-Artikel zur Gleichberechtigung der Frau durchzusetzen.

Notstandsverfassung, Gleichberechtigungsgesetz und Preußischer Kulturbesitz waren unter anderem die Themen, oft von zeithistorischer Bedeutung, mit denen sie als Ministerialbeamtin in den 50er-Jahren befasst war.

Adenauers Niederlage

Im Streit um Adenauers Versuch, Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre einen regierungsnahen Fernsehsender zu gründen, spielte sie – inzwischen Spitzenbeamtin in Zinns Staatskanzlei – eine besonders wichtige Rolle. Die sozialdemokratisch regierten Länder hatten gegen die Regierung geklagt. Wiltraut von Brünneck verfasste die Schriftsätze und bereitete den Prozessvertreter der Länder, Adolf Arndt, auf sein Plädoyer vor.
Adenauer erlitt seine wohl größte innenpolitische Niederlage. Seine Reaktion im Bundestag: „Das Kabinett war sich darin einig, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist, meine Damen und Herren. Meine Herren, Sie können doch wirklich nicht erwarten, dass ich hier mich hinstelle und sage, das ist ein gutes Urteil.“
Wiltraut von Brünneck arbeitete meist hinter den Kulissen. Deshalb wurde über ihre Aktivitäten auch aus dieser Zeit wenig bekannt – bis zur Biografie von Fabian Michl. Karlsruhe war der Höhepunkt ihrer Karriere und die letzte Station ihres Wirkens. 1965 heiratete sie im Alter von 53 Jahren den Bundesverfassungsrichter Hans Rupp. Seitdem trug sie den Doppelnamen Rupp-von Brünneck. 1977 starb sie im Alter von 65 Jahren.

Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts

Inzwischen wird auch über die anderen Richterinnen und Richter aus den ersten 20 Jahren des Bundesverfassungsgerichts geforscht. Der Auftrag kam vom Gericht selbst. 2018 ging es auf das Institut für Zeitgeschichte zu. Das Forschungsprojekt wird seit Januar 2021 von Frieder Günther und Eva Balz durchgeführt – unter dem Titel „Das Bundesverfassungsgericht nach dem Nationalsozialismus“.
„Unser Projekt hat einen zweigeteilten Ansatz. Der erste ist, dass wir uns tatsächlich die Biografien der ersten 42 Personen anschauen, die Richterinnen oder Richter am Bundesverfassungsgericht waren“, erläutert Historikerin Eva Balz das Forschungsvorhaben. „Dabei ist unser Untersuchungszeitraum 1951 bis 1970. Wir möchten gerne die Analyse dieser Biografien zusammenbringen mit einer etwas abstrakteren Ebene, in der wir uns dafür interessieren, wie eigentlich die Arbeitskultur war an diesem Gericht, was das Selbstverständnis der Richter war, was überhaupt für eine Vorstellung von Recht herrschte und welche Annahmen den Entscheidungen zugrunde lagen.“

Der Fall Willi Geiger

Bereits in den 60er-Jahren war bekannt geworden, dass einer der Richter des Bundesverfassungsgerichts, Willi Geiger, eine dunkle NS-Vergangenheit hatte. Er erwirkte als Staatsanwalt am Sondergericht Bamberg in mehreren Fällen Todesurteile und sorgte für die Vollstreckung.
Seine Dissertation, die 1941 veröffentlicht wurde, schrieb er über die "Rechtsstellung des Schriftleiters". Er leitete die Arbeit mit einem Goebbels-Zitat über die "absolute Überschätzung" der Meinungsfreiheit ein. Ein Schriftleiter, also Chefredakteur, müsse grundsätzlich arischer Abstammung sein, das hatte er direkt aus dem Parteiprogramm der NSDAP abgeleitet.
Baden-Württemberg, Karlsruhe: Beim Tag der offenen Tür im Bundesverfassungsgericht wird der Schrank gezeigt, in dem die roten Roben der Bundesverfassungsrichter aufbewahrt werden. Rote Roben hängen an Bügeln, daneben werden die ebenfalls signalroten Mützen aufbewahrt.
Nicht immer eine weiße Weste unter der Roten Robe: NS-Verstrickungen im Bundesverfassungsgericht.© picture alliance / dpa / Uli Deck
Dass der Geiger ans Bundesverfassungsgericht kam, lag an dem damaligen Justizminister Thomas Dehler, der vorwiegend alte Nazis reingeholt hat in sein Ministerium“, sagt Ingo Müller, emeritierter Strafrechtsprofessor und Autor des Buches „Furchtbare Juristen“. Das Justizministerium sei stärker naziverseucht gewesen als das Auswärtige Amt. „Er hat auf Kontinuität gesetzt in erster Linie und hat den Geiger als persönlichen Referenten geholt, zum BGH-Richter gemacht und zum Vorsitzenden Richter, Senatspräsidenten beim BGH, der gleichzeitig abgeordnet war ans Justizministerium als persönlicher Referent des Justizministers. In dem Jahr wurde er dann auch noch zusätzlich Verfassungsrichter. So was war damals möglich.“
Und wie war es möglich, dass Geiger in den 60er-Jahren, als seine Nazi-Vergangenheit bekannt geworden war, bis zu seiner Pensionierung 1977 im Amt blieb? „Weil es kein Verfahren gibt, einen Verfassungsrichter abzulösen“, so Ingo Müller. „Das ist bisher noch nicht vorgekommen.“ Und die Historikerin Eva Balz ergänzt: „Willi Geiger war Richter der ersten Stunde am Bundesverfassungsgericht. Der war parallel auch noch Richter am BGH und er war Verfasser des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Das heißt, er war auch innerhalb der Kollegenschaft am Bundesverfassungsgericht gewissermaßen der Experte für dieses Gesetz. Das heißt, er konnte sich so ein bisschen als graue Eminenz unverzichtbar machen.“

Kein Einzelfall

Jahrzehntelang wurde Willi Geiger als Ausnahmefall angesehen, bis bekannt wurde, dass auch weitere Richterpersönlichkeiten vom Bundesverfassungsgericht im Nationalsozialismus eine Rolle gespielt hatten.
Am Bundesverfassungsgericht saßen frühere Funktionsträger des nationalsozialistischen Deutschlands wie Willi Geiger neben NS-Verfolgten und Emigranten wie Gerhard Leibholz an einem Richtertisch. „Man hat so nebeneinanderher gelebt, muss nicht unbedingt befreundet sein. Und die Mehrheit war beim Bundesverfassungsgericht doch Nazi-unbeeinflusst“, sagt Müller.
Ganz anders als am Bundesgerichtshof, dem höchsten Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Revisionsinstanz in Zivil- und Strafsachen. Die personellen NS-Kontinuitäten sind hier viel zahlreicher. „Ein ganz hervorragendes Beispiel ist Hermann Weinkauff, der im Dritten Reich Reichsgerichtsrat war und dann im Zuge dieser Dehlerschen Politik, möglichst viele Mitglieder des Reichsgerichts an den Bundesgerichtshof zu holen dorthin kam“, sagt Müller. „Justizminister Dehler hat mehrfach gesagt, dass die Richterschaft des Dritten Reichs immer die Fahne des Rechts hochgehalten hat und ihr nichts, aber auch gar nichts vorzuwerfen sei.“

Erst Nazi, dann scheinbar Demokrat

Auch unter den Rechtswissenschaftlern gab es personelle NS-Kontinuitäten. Die meisten Hochschullehrer, die von den Alliierten suspendiert wurden, kehrten an die Universitäten zurück. Hier nennt Ingo Müller Theodor Maunz, der bis 1945 den Führerstaat propagiert hatte. In der Bundesrepublik wurde er Herausgeber und Namensgeber des Großkommentars zum Grundgesetz im Beck-Verlag. „Hinterher ist gesagt worden, er war wie ein Chamäleon“, erzählt Müller. „Im Dritten Reich war er Nazi, in der Bundesrepublik war er dann ein lupenreiner Demokrat. Aber nach seinem Tod hat sich herausgestellt, nicht mal das war er, sondern er hat immer für die Deutsche National- und Soldatenzeitung geschrieben, war ein enger Freund von dem Gerhard Frey.“
Bereits 1994, kurz nach Maunz´ Tod, forderten kritische Stimmen, den Namen des Nazi-Juristen vom Titel des Grundgesetz-Kommentars zu streichen. Dazu konnte sich der Beck-Verlag erst im Sommer 2021 durchringen. Auch zwei weitere juristische Standardwerke, der Schönfelder und der Palandt, wurden umbenannt, weil ihre Namensgeber NS-belastet waren.
Porträt von Theodor Maunz
Propagierte den Führerstaat: Nach 1945 wurde Theodor Maunz Herausgeber des Großkommentars zum Grundgesetz im Beck-Verlag.© picture-alliance / dpa / Hartmut Reeh
Wie kam es, dass so viele überzeugte Nationalsozialisten in der frühen Bundesrepublik bis in höchste Ämter aufstiegen? „Weil es so frech geleugnet wurde, das Unrecht des Dritten Reichs“, meint Müller. „So ein paralleler Fall: Der Eduard Dreher, der einflussreichste Mann, was Strafrecht betrifft, der auch den einflussreichsten Kommentar rausgegeben hat, der war auch Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck und hat da Dutzende von Todesurteilen bewirkt. Das galt allerdings auch als hart, aber gerecht. Das war immer die Parole. Die Justiz des Dritten Reichs war hart, aber gerecht.“
Von Wiltraut Rupp-von Brünneck und von Willi Geiger ist bekannt, dass sie aus den Entnazifizierungsverfahren als entlastet herauskamen. Das scheint zu bestätigen, dass die Entnazifizierung als missglückter Versuch einer frühen Vergangenheitsbewältigung angesehen wird, gescheitert an den Lügen und Täuschungen der Deutschen.

Entnazifizierung als sicherheitspolitische Maßnahme

Die Historikerin Hanne Leßau kommt in ihrer breit angelegten Forschung über die frühe Nachkriegszeit zu einem anderen Schluss. Das Ziel der Entnazifizierung sei nicht, wie oft angenommen, die Läuterung der Personen gewesen, sondern schlicht eine sicherheitspolitische Maßnahme der Alliierten. „Und da war es eben auch ein Ziel, die sogenannten Träger des Systems zu neutralisieren, dass sie sozusagen dem Aufbau einer Demokratie nicht im Wege stehen. Das bedeutete, dass man sie personell für einige Zeit aus dem Einfluss im öffentlichen Leben entfernen wollte und dementsprechend eben auch aus beruflichen Stellungen raushalten wollte, zumindest temporär.“
Hanne Leßau hat sich nicht mit den Eliten befasst, sondern die Akten aus einer breiten Bevölkerungsschicht untersucht. Da stellte sich heraus, dass viele Deutsche gar nicht leugnen wollten, dass sie in den Nationalsozialismus verstrickt waren. Es reichte ihnen jedoch nicht, die entsprechenden Kästchen im Fragebogen anzukreuzen. Sie wollten vielmehr erklären, warum sie zum Beispiel Mitglied der NSDAP wurden. Sie wollten ihre eigene Geschichte erzählen.
Für ihr umfangreiches Buch, das 2020 im Wallstein Verlag erschienen ist, hat Hanne Leßau mehr als tausend Fallakten, Tagebücher, Briefe, Notizzettel und Zeitungsartikel ausgewertet. Der Buchtitel „Entnazifizierungsgeschichten“ ist im doppelten Sinn zu verstehen: Geschichten, die von den Menschen im Entnazifizierungsverfahren erzählt werden, und Geschichten, die von der Entnazifizierung erzählen.
Denn aus Geschichten, die weitergetragen werden, werde irgendwann Selbstdeutungen, so Leßau. „Das sind tatsächlich Selbstbilder und damit auch immer eine Erzählung eines ernst gemeinten Abwendens vom Nationalsozialismus. Das ist aber noch kein Hinwenden direkt zur Demokratie. Das ist wichtig. Ich glaube, wir hätten das manchmal gerne, dass die Entnazifizierung so ein Moment gewesen wäre, wo es so eine Art Konversion gibt. Nazis gehen rein und Demokraten kommen raus. Das ist es nicht.“

Über ihre Nähe zum NS-Regime sprach sie nie

Wiltraut Rupp-von Brünneck setzte sich zwar mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kritisch auseinander, zum Beispiel in ihrem Sondervotum zum Mephisto-Beschluss. Über ihre eigene Rolle in dieser Zeit fand sie jedoch keine kritischen Worte, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit.
In einer Sendung über die Rechte der Frauen im Deutschlandfunk im Oktober 1975 – auf dem Höhepunkt ihrer Karriere – erzählte sie rückblickend von ihren Schwierigkeiten als Studentin und junge Juristin in den 30er- und 40er-Jahren:
 „In der Weimarer Zeit und dann in den Anfängen nach 1933, wo wir es als Juristinnen ja sehr schwer hatten auf der Universität und immer die Gefahr bestand, dass das juristische Frauenstudium überhaupt verboten wurde. Ein großer Teil derjenigen, die mit mir das Studium angefangen haben, haben es abgebrochen, mindestens nach dem Referendar. Und ich habe also vielleicht aus einer gewissen persönlichen Sturheit es fortgesetzt, nicht wahr, bis zum Assessor. Dann kam mir der Krieg zu Hilfe. Da hatte man dann schon wieder etwas mehr Möglichkeiten. Trotz der generellen Diskriminierung der Juristinnen.“
Über ihre Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie sprach Wiltraut Rupp-von Brünneck nicht. Susanne Baer, seit elf Jahren Richterin des Bundesverfassungsgerichts, konfrontiert mit der bisher unbekannten Vergangenheit ihrer Vorgängerin, stellt sich Fragen:
„Gibt es die Möglichkeit für Menschen, in dem einen Regime hoch problematisch Akteur zu sein und sich wirklich zu verändern oder ist das sozusagen eine Art Fake-Performance, die eher eine große Frage aufwirft im Hinblick auf die Lauterkeit der Institution an sich?
Und wenn jemand wirklich versteht, dass da Unrecht geschehen war, und dann wirklich dazu beiträgt, dass der Rechtsstaat, der Grundrechtsstaat, der Verfassungsstaat sich gut entwickeln können, sollte ich dann die Vergangenheit zwar nicht vergessen, aber diese Lernkurve sozusagen attestieren und auch ernst nehmen.
Damit muss ich den Menschen und kann den Menschen wahrscheinlich nie zum Vorbild machen. Aber ich kann doch diese Biografie als etwas sehen, weil etwas sehr Beeindruckendes geschehen ist, nämlich ein Mensch, der sich wandelt. Und diese Wandelbarkeit würde ich, glaube ich, jedem zugestehen wollen.“
Wiltraut von Brünneck, die bis Kriegsende noch im Reichsministerium aktiv war, danach kurze Zeit in der sowjetisch besetzten Zone als Richterin arbeitete und schließlich nach Hessen wechselte, wurde zu einer überzeugten Demokratin. Ihr Biograf Fabian Michl resümiert:
„Ihr ging es wirklich um ein freiheitlich pluralistisches System, das ja in der jungen Bundesrepublik auch nicht ohne Alternativen war. Wenn man die Regierungspolitik der Regierungszeit Adenauer in der Rückschau betrachtet, gibt es dort sehr autoritäre Tendenzen. Sie wollte hier Einfluss nehmen darauf, dass die Bundesrepublik ihren freiheitlich-demokratischen Kurs beibehält. Und das tat sie mit einer Konsequenz, die meines Erachtens deutlich über beamtische Pflichterfüllung hinausgeht. Das ist schon mit großer Überzeugung gelebt und setzt sich dann auch in der Tätigkeit als Verfassungsrichterin fort, in der es ja auch niemanden mehr gibt, der ihr irgendwelche Weisungen geben könnte. Man darf nicht vergessen, dass das Bundesverfassungsgericht in den späten 60er-Jahren, auch den 70er-Jahren ja nicht mehr die Bastion der Freiheit war, die sie in seiner Gründungsphase gewesen ist. Man erkennt an Urteilen wie dem Spiegel-Urteil oder auch dem Mephisto-Beschluss, 218, deutlich freiheitsskeptische Tendenzen. Und dort nimmt Wiltraut Rupp-von Brünneck immer die freiheitliche Gegenposition ein.“
Auf jeden Fall ist diese Juristin ein Beispiel für die Überzeugungskraft, die der bundesdeutsche Rechtsstaat nach 1949 entwickelte.

Redakteur: Winfried Sträter
Regie: Guiseppe Maio
Technik: Hermann Leppich

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