Willkommenskultur - Teil 1

Das deutsche Brot

Roggenbrote kommen am 30.04.2014 in der Backstube des Biobäckers "Brotgarten" in Berlin aus dem Ofen.
Ofenfrisches Brot in einer Backstube © picture alliance / dpa / Rainer Jensen
Von Gila Lustiger · 12.01.2015
In dieser Woche stammt der "Originalton" von der Autorin Gila Lustiger. Sie lebt in Paris und hat sich bei einem Besuch in ihrer Heimatstadt Frankfurt/Main Gedanken gemacht über das Wort "Willkommenskultur". Ihre Überlegungen beginnen bei der Sprache und werden ausgelöst von etwas Alltäglichem: einem Brot.
Letzte Woche war ich wieder in meiner Geburtsstadt Frankfurt. Ich bin dort aufgewachsen und obwohl ich seit über zwanzig Jahren in Paris lebe, fühlt es sich noch wie zu Hause an. Ich fahre regelmäßig nach Frankfurt. Und regelmäßig schleppe ich in meinem Handkoffer allerlei mit zurück nach Paris. Das machen alle, die nicht in dem Land leben, indem sie herangewachsen sind, habe ich mir einmal sagen lassen.
Ein duftender Vollkorn-Laib aus Roggen und Dinkel
Ich, ich bringe immer richtig gutes Brot aus der Biobäckerei Kaiser in Sachsenhausen mit. Eigentlich heißt mein Brot Roggen-Dinkelvollkornbrot. Und hier sind wir im Grunde schon bei meinem Thema angelangt. Das Vermögen der deutschen Sprache komplexe, logische Zusammenhänge mit einer neuen Wortschöpfung so effizient und knapp wie möglich zusammenzufassen. Roggen-Dinkelvollkornbrot. Wer sich da noch fragt, was in dem duftenden Laib drin ist, ist selber daran schuld.
Deutsche sagen mehr mit weniger Worten. Das hat eine Studie drei französischer Linguisten der Universität Lyon herausgefunden. Deutsche reden nicht so schnell wie Japaner, die pro Sekunde locker 7,84 Silben loswerden. Auch nicht so schnell wie die Spanier mit ihren 7,82 Silben oder wie Franzosen, denen pro Sekunde 7,18 Silben über die Lippen huschen. Deutsche bringen es auf schlappe 5,97 Silben pro Sekunden. Nein, geschwind sind sie nicht, die Deutschen, dafür aber die absoluten Weltmeister, wenn es darum geht, so viel Information wie möglich in ein einziges Wort zu packen. Das Deutsche Wort ist dicht, kräftig, solide. Fast so kompakt wie mein Roggen-Dinkelvollkornbrot. Fein gemahlen und geschrotet.

Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, "Die Bestandsaufnahme", erschien 1995, dann 1997 "Aus einer schönen Welt". Mit "So sind wir" (2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien ihr Roman "Woran denkst Du jetzt" (2011).

Die Schriftstellerin Gila Lustiger
© dpa / Jörg Carstensen

Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten.

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