Michael Wildt: „Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918-1945“

Der Blick von unten

Cover des Buchs "Zerborstene Zeit" des Berliner Historikers Michael Wildt.
© C.H. Beck

Michael Wildt

Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918-1945C.H. Beck, München 2022

640 Seiten

32,00 Euro

Von Wolfgang Schneider · 10.03.2022
Brauchen wir noch eine „Deutsche Geschichte 1918-1945“? Ja. Denn der Historiker und Nationalsozialismus-Experte Michael Wildt setzt in seinem Buch „Zerborstene Zeit“ neue, interessante Akzente. Als Gesamtdarstellung kann man das Buch indes nicht lesen.
Der Berliner Historiker Michael Wildt will Geschichte nicht von den Kommandohöhen der Politik betrachten, sondern die Wahrnehmungen und Irrungen der Zeitgenossen zum Erkenntnismedium machen. Geschichte zeigt sich so in ihrer Offenheit. Dazu arbeitet Wildt in seine Erzählung Stimmen von Zeitzeugen ein, vor allem mit Hilfe von Tagebuchaufzeichnungen. 
Dass sich etwa eine Hamburger Lehrerin, die mit einem Juden verheiratet war und zwei „halbjüdische“ Kinder hatte, für Hitler begeisterte, erscheint im Rückblick widersinnig. Aber 1930 oder 1933 war eben noch nicht 1945.
Indem Wildt mit den Tagebüchern dieser Frau – Luise Solmitz ihr Name – arbeitet, kann er die tatsächlich erlebte Geschichte erfassen, die für unser Verständnis vergangener Epochen fruchtbarer ist als die vom Ende her gedachten moralischen Quintessenzen, die wir eher brauchen, um unsere eigene Gegenwart auf Kurs zu bringen.

Kleinstadt statt Kommandohöhe

Um die Taktiken der nationalsozialistischen Machteroberung zu zeigen, wählt Wildt die rheinländische Kleinstadt Wittlich als Schauplatz, wo die katholische Tradition stark war und die Menschen mehrheitlich Zentrum gewählt hatten. Auf der Ebene des Lokalen, wo jeder jeden kannte, wird besonders deutlich, wie sich die Nationalsozialisten mittels Symbolpolitik etablierten. Der Appell an das Gemeinschaftsgefühl ließ kaum ein Abseitsstehen zu. Ob man die „Volksgemeinschaft“ innerlich wirklich bejahte, war dabei weniger wichtig als die sichtbaren Bekenntnisse, etwa das Heraushängen der Hakenkreuzfahne. Zustimmung wurde organisiert.
Der Schauplatz, den Wildt für das Kapitel „Vernichtungskrieg“ auswählt, ist die westukrainische Stadt Lemberg. Hier macht er historische Tiefenschichten sichtbar und zeigt, wie diese buchstäblich zerrissene Region immer wieder zum Spielball verschiedener politischer und nationaler Interessen wurde. Das führte zur Entfesselung ethnischer Gewalt, die in Massenerschießungen und Deportationen durch die SS gipfelte.
Wildts Buch beschäftigt sich in zwölf Kapiteln mit ganz verschiedenen Themenkomplexen. Im Kapitel über die „Menschen am Sonntag“ geht es um das Freizeitverhalten in der späten Weimarer Republik und um den neuen Typus der weiblichen Angestellten.
Ein etwas forciert wirkendes Kapitel widmet sich den damaligen „People of Color in Deutschland“.  Mit dem Mut zur Lücke lässt Wildt bereits oftmals dargestellte Aspekte außen vor und eröffnet stattdessen das Kapitel über das Vorkriegsjahr 1936 mit dem Schauplatz Äthiopien, wo das faschistische Italien einen äußerst brutalen und opferreichen Kolonialkrieg führte, der im damaligen Europa die Gemüter so erhitzte wie der Spanische Bürgerkrieg. 

Der Weltkrieg als Nebenereignis des Holocaust

Nicht ganz glücklich ist deshalb der Titel des Buches. „Deutsche Geschichte 1918-1945“ – das erhebt den Anspruch eines Kompendiums, und dann mag es problematisch erscheinen, wenn etwa von den 130 Seiten über die Jahre des Zweiten Weltkriegs mindestens hundert, überaus kenntnisreich, vom Holocaust handeln.
Früher haben manche so getan, als sei die Judenvernichtung ein Nebenereignis des Zweiten Weltkriegs gewesen; hier erscheint es – womöglich ohne dass Wildt es beabsichtigt hat – umgekehrt so, als wäre der Zweite Weltkrieg nur ein Nebenereignis des Holocaust.
Solche Unausgewogenheiten können den Reiz dieser jederzeit konkreten und konzisen historischen Darstellung aber kaum schmälern. Denn dieser liegt gerade in den eigenwilligen Akzenten und Perspektiven auf die deutsche Geschichte.
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