Die Sonnenseite des Internets
Ablöse für den Brockhaus im Regal und erste Adresse für den Fakten-Check per Handy: Das Online-Lexikon Wikipedia wird 15 Jahre alt. In der Regel sei er mit den Artikeln zufrieden, manchmal sogar beglückt, erklärt unser Autor Arno Orzessek in seiner Geburtstagsrede. Ein Lichtblick im Internet.
Okay, es handelt sich nicht um die erlesene Ledereinband-Kopfgoldschnitt-Ausgabe, sondern um die kartonierte Studien-Version... Aber immerhin: In meinem ästhetisch wertvollsten Regal residiert auf Augenhöhe die phantastische Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden. Von denen allerdings so mancher seinen Schmuckschuber niemals verlassen hat. Pech gehabt! Enzyklopädie-geschichtliches Pech! Denn kaum hatte ich im Jahr 2001 meinen Brockhaus gekauft und begeistert ins Regal geräumt, Weltwissensträume träumend, breitete sich Wikipedia aus. Mein Traum wurde Realität - allerdings in der Virtualität, die man am PC betritt, an dem ich indessen ohnehin sitze, wenn ich schreibend etwas wissen will.
Es mag sein oder nicht, dass Wikipedia zum Nutznießer eines - meines - lexikalischen Urvertrauens wurde, das die Jahrhundert-Institution Brockhaus in mich eingesenkt hatte. Fest steht, dass ich Wikipedia-Einträge auch schon für satisfaktionsfähig hielt, bevor sie regelmäßig Enzyklopädie-Vergleiche gewannen. Sofern es, analog zum Bücherwurm, Wikipedia-Würmer gibt, bin ich ein frühes Exemplar dieser Gattung. Und bis heute winde ich mich oft stundenlang durchs Rhizom der Verweise - eine Zeitvergeudung, die ich für Zeitvergoldung halte.
Abglanz der fiktiven Universalbibliothek von Babel
Andererseits ist Wikipedia natürlich auch meine erste Adresse für den sofortigen Fakten-Check per Handy - und autoritäres Vorlesen von Wikipedia-Artikeln im Kreise allgegenwärtiger Besserwisser gehört zu meinen umstrittenen Vorlieben. Nun könnte man kritteln, die notorische Nutzung mache naiv, abhängig und blindgläubig. Ich behaupte jedoch das Gegenteil. Je mehr Wikipedia-Artikel man liest, ohne das Lesen sonstiger Wissensquellen und überhaupt ordentlicher Bücher deshalb aufzugeben, desto ausgeprägter wird das Gespür für Schwächen, Fehler und Tendenziöses. Aber in der Regel bin ich zufrieden, manchmal sogar beglückt, wie aktuell, profund und dicht die Enzyklopädie informiert.
In meinem Dasein als Wikipedia-Wurm denke ich oft an die Bibliothek von Babel, jene Erzählung von Jorge Luis Borges über eine fiktive Universalbibliothek, die man sich präexistent und unendlich vorzustellen hat. Für mich ist Wikipedia ein digitaler Abglanz dieser Bibliothek. Das Internet hat bekanntlich seine Schattenseiten - dort aber, wo es licht ist, ist Wikipedia. Zum Geburtstag meinen Glückwunsch! Ihr Wikipedia-Wurm.