Wiener Judenrat unter dem NS-Regime

Die perverse Diabolik der Machthaber

Wien-Gedenkstein an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem
Wien-Gedenkstein an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Die Israelitische Kultusgemeinde Wien musste im Auftrag der Gestapo Deportationen ihrer Glaubensgenossen organisieren. © imago/ecomedia/robert fishman
Von Hans-Jörg Modlmayr · 10.01.2015
Lisa Hauff beleuchtet in der Fallstudie "Zur politischen Rolle von Judenräten" beispielhaft den Judenrat in Wien. Die Beurteilung der jüdischen Repräsentanten, die im Auftrag der Gestapo darin mitwirkten, gestaltet die Historikerin angemessen offen.
Die Diabolik der Machthaber des Naziregimes ist gründlich erforscht worden. Gleichwohl wird sie öffentlich ungern wahrgenommen, weil sie unvorstellbar pervers wirkte, Zwietracht und Misstrauen säte und so unter Opfern, die überlebt haben, noch lange nachwirkte.
Und zu dieser Diabolik gehört, jüdische Repräsentanten an der Verfolgung und "Vernichtung ihres eigenen Volkes" mitwirken zu lassen, wie Hannah Arendt es ausdrückte. Mitwirken in dem Sinne, dass sie Daten über Glaubensgenossen und auch 'Nichtglaubensjuden' den Schergen des Systems aushändigen mussten. Und dies waren Daten, die nur jüdische Gemeinden und Vereine besaßen.
Schlimmer noch, dass sie die schmutzige Arbeit übernommen haben, Deportationsopfer "auszuheben". Auf diese Weise, so kalkulierten die Nazis, werde die Operation möglichst widerstandlos ablaufen.
Jetzt liegt endlich eine wissenschaftliche Arbeit vor, eine gründlich recherchierte Fallstudie, die beispielhaft den Wiener Judenrat durchleuchtet. Ihn hatte Adolf Eichmann 1938 als Körperschaft des Öffentlichen Rechts gegründet und zum Vertragspartner der Politik gegen jüdische Landsleute gemacht. Die Historikerin Lisa Hauff wertete bisher weitgehend unausgeschöpftes Quellenmaterial akribisch und mit der gebotenen emotionalen Distanz aus.
Cover Lisa Hauff "Zur politischen Rolle von Judenräten"
Cover Lisa Hauff "Zur politischen Rolle von Judenräten"© Wallstein
Benjamin Murmelstein, rechte Hand von Josef Löwenherz, dem Amtsleiter der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde, hatte zunächst die Aufgabe, so geräuschlos wie möglich, die Emigration der österreichischen Juden abzuwickeln. Unter seiner kompetenten Regie gelang es etwa 128.500 Personen, legal und mit allen nötigen Papieren versehen in sichere Aufnahmeländer auszuwandern. Das ist ganz wesentlich sein Verdienst.
Seine Tragik begann, als die Nazis Druck und Tempo steigerten, von einer vergleichsweise trägen Emigration ins sichere Ausland auf eine zügige Massendeportation in todbringende Lager umschwenkten. Diese Deportationen mussten die Angestellten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien im Auftrag der Gestapo organisieren, wie Amtsleiter Löwenherz in einem Vermerk festhielt.
"Die abgehenden Transporte haben fortan nicht als Evakuierungs- oder Umsiedlungstransporte, sondern als Abwanderungstransporte bezeichnet zu werden. Das Lager in der Sperlgasse heißt Abwanderungslager.
Der Dienst im Lager ist von der Kultusgemeinde derart einzurichten, dass ein Entkommen der Insassen unmöglich gemacht wird.
Ich erhielt die Weisung, entsprechende Aufträge dem Ordnerdienst zu erteilen und anzudrohen, dass für jeden entkommenen Insassen des Abwanderungslagers, zwei mit dem Überwachungsdienst bzw. Recherchendienst betraute Angestellte der Kultusgemeinde in den Abwanderungstransport eingereiht werden."
Geschickt hatten sich die Nazis diese perfide 'Arbeitsteilung' ausgedacht, die bei den Opfern den Eindruck erwecken musste, sie würden von ihrer eigenen Kultusgemeinde verfolgt. Benjamin Murmelstein rechtfertige sich 1975 in einem Interview mit dem Dokumentarfilmer Claude Lanzmann.
"Ein jüdischer Funktionär konnte sich nicht unter Hitler den Spaß leisten, zu sagen: Du, Eichmann sagt das, damit habe ich nichts zu tun.
Denn da hätte er nichts machen können, wäre er erledigt gewesen. Man musste, man musste dabei sein [,] um eingreifen zu können, man durfte sich nicht scharf distanzieren.
Aber man musste immer dabei sein, immer angreifen können, immer mitwirken, […] immer helfen [,] annullieren konnten wir nichts."
Moralisches Dilemma
Mitmachen zu müssen, um vielleicht helfen zu können, und darüber schuldig zu werden, so lässt sich das moralische Dilemma beschreiben, in das Juden nur deswegen gedrängt werden konnten, weil sie allzu lange glaubten, als deutsche und österreichische Staatsbürger letztlich doch durch Recht oder Gesellschaft oder Zeitenlauf geschützt zu sein. Und selbst als der Irrtum offenkundig wurde, konnten sie den Ausgang der Geschichte nicht kennen, auch wenn sie ihn geahnt haben mögen.
Wer den Albtraum heute begreifen will, muss sich den historischen Umständen stellen, um die Frage zu beantworten, ob es gerechtfertigt war, in Judenräten mitzuwirken, ob es sich gelohnt hat, durch die hautnahe Kenntnis der Verfolger wenigstens einige Menschen vor dem sicheren Mord und Tod zu bewahren.
Anderseits: eine solche Frage und erst recht der Streit um die richtige Antwort unterwerfen sich ebenso jener absichtsvollen nationalsozialistischen Diabolik. So schließt Lisa Hauff ihre therapeutisch reinigende Fallstudie mit Benjamin Murmelsteins resignativem Fazit, das den Leser - durchaus angemessen - ratlos zurücklässt:
"Mildern konnten wir, und das habe ich getan."

Lisa Hauff: Zur politischen Rolle von Judenräten
Benjamin Murmelstein in Wien 1938-1942
Wallstein Verlag, Göttingen 2014
336 Seiten, 34,90 Euro

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