Wiedergelesen: Thoreaus "Walden"

Variationen eines Klassikers

"Walden oder Leben in den Wäldern" ist ein berühmtes Buch von Henry D. Thoreau aus dem 19. Jahrhundert. Auf dem Bild sieht man einen Nachbau der Hütte, in der er am Walden Pont lebte.
"Walden oder Leben in den Wäldern" ist ein berühmtes Buch von Henry D. Thoreau aus dem 19. Jahrhundert. Auf dem Bild sieht man einen Nachbau der Hütte, in der er am Walden Pont lebte. © Ana Maria Gomez Lopez
Von Florian Felix Weyh |
1845 ging Henry David Thoreau in die Natur hinaus, wohnte zwei Jahre in einem selbst gezimmerten Blockhaus und schrieb ein Loblied auf das einfache Leben. Sein Klassiker "Walden" inspirierte Aussteiger jeder Couleur – und andere Autoren, Fortsetzungen zu schreiben.
"Warum nicht ein paar Leute zusammenbringen", stellt sich eine Frage immer wieder neu, "die irgendwo ein soziales System errichten, das wirklich funktioniert?" Mit dieser Bedingung – "wirklich funktioniert" – ist das natürlich so eine Sache. Ob der nachmals berühmte, heute jedoch weitgehend vergessene Verhaltenspsychologe Burrhus Frederic Skinner 1945 die Idee des jüdischen Kibbuz zumindest kannte, als er seinen Roman "Walden Two" niederschrieb, wissen wir nicht. Er interessierte sich jedenfalls für eine Art Fortentwicklung dieses Konzepts, nämlich dafür ...
"... wie eine Gruppe von, sagen wir, eintausend Personen die Probleme ihres Alltagslebens mit Techniken der Verhaltenssteuerung lösen würde".
"Konditionierung" hieß die Glücksverheißung. Aggressionen, Egoismus und Gewalt könne man mit Techniken von Belohnung und Bestrafung in den Griff kriegen. "Futurum Zwei" (so die deutsche Übersetzung) kommt als klassische Utopie daher: Hie die bessere Welt im Kleinformat – eine autarke Bauernkommune im Mittleren Westen –, da die staunende Besuchergruppe von außerhalb, aufgeteilt in Skeptiker und Romantiker. Letztere schließen sich der Gemeinschaft unverzüglich an, aus gutem Grunde: Wie in realen Lebensexperimenten ab den 60er-Jahren ist in Skinners ansonsten unsinnlicher Planungsphantasie die Sexualität befreit. Schon 14-Jährige dürfen sie ausleben, was 1945 revolutionär gewesen sein dürfte.

Der Traum einer friedfertigen Kommune bedarf psychischer Manipulationen

Auffallend ist indes die Demokratieskepsis des Verhaltensingenieurs – um nicht zu sagen: dessen Demokratiefeindlichkeit – und seine Liebäugelei mit stalinistischen Mustern bezüglich der Erschaffung des "Neuen Menschen". Die zentrale Frage stellt sich damit grundsätzlich anders als zu Beginn:
"Angenommen, Sie sähen plötzlich eine Möglichkeit, das Verhalten der Menschen so zu lenken, wie Sie es wünschen. Was würden Sie tun?"
Darauf verzichten, antwortet der liberale Skeptiker unter den Besuchern. Doch Frazier, der fiktive Gründer von "Walden Two" will durch Verhaltenssteuerung die ganze Menschheit ins größtmögliche Glück befördern. Womit wir bei "Futurum Drei" alias "Walden Tres" wären. Darin vergrößert der kolumbianische Psychologe Rubén Ardila 1979 die experimentelle Basis deutlich. Ausgerechnet Panama, bis heute Inbegriff staatlicher Dysfunktionalität, wird von einer Art Fidel-Castro-Klon übernommen, der sich als Militärdiktator einen Psychologen zum Berater nimmt:
"Wir werden die größten Träume der Menschheit realisieren, mit deiner Hilfe, wir zwei, du und ich, David und Martin ..."

... Luther! Denn so heißt der Diktator: Martin Luther Rey. Symbolisch auch gleich seine erste Handlung, eine Kalenderreform à la Französische Revolution, 10 Monate zu 36 Tagen. Mit folgenden Namen:
"Lao Tse, Moses, Jesus, Sokrates, Leonardo, Darwin, Marx, Marie Curie, Freud und Einstein."
Wo Marie Curie als Glücksverheißung aufleuchtet, sollte das wärmende Atomfeuer nicht fehlen – doch darauf zielt die Panama-Utopie nicht. Auch in "Walden Tres" geht es wieder nur um eine Technik, das Wesen des Menschen zu manipulieren. Der Militärdiktator schafft es damit sogar, seine Armee aufzulösen und die Soldaten reibungslos in zivile Berufe einzugliedern.

Am besten liest man bei verstaubten Utopien den letzten Satz zuerst

Was bei Skinner noch freier Sex unter Individuen ist, wird in der Nachfolgeutopie freilich staatlich geregelt, in Form von "Zentren für sexuelle Gesundheit". Vulgo: Swinger-Clubs. Doch keine falsche Lektüre-Vorfreude: Kommt Skinners "Futurum Zwei" schon als trockene Kost daher, serviert der Kolumbianer eine staubtrockene, bar jeder Lustbarkeit. Der Trick des Profilesers gegen eine drohende Staublunge: im Buch hinten beginnen, beim letzten Satz!
"Die Welt war in Ordnung."
So "Walden Two", weil sich der ursprünglich skeptische Ich-Erzähler letztlich doch der Kommune anschließt.
"Ich bin fertig, ich komme gleich mit."
Da ist die Welt dann nicht mehr in Ordnung. In "Walden Tres" wird der Ich-Erzähler zum Verhör abgeholt. Nicht, weil die Revolution ihre Kinder frisst, sondern weil eine ausländische Großmacht – die USA? – Panama besetzt hat, um dem Experiment ein Ende zu bereiten. So gesehen ist die Abschaffung der Armee immer utopisch.
"Ich (...) fuhr mit meiner Vespa mitten in der Nacht ins Büro."
Das ist jetzt der Schlusssatz eines weiteren "Walden III". Als E-Book vom Schweizer Soziologen und Berater Rolf Todesco veröffentlicht, verlagert es den utopischen Diskurs von der autarken Gemeinschaft und dem Staat hinein in den kapitalistischen Betrieb. Der Protagonist fährt nachts in sein Büro, weil er davon überzeugt ist, in der richtigen Firma gelandet zu sein. Einer Firma, die Freiheit, Selbstwirksamkeit und Geldverdienen unter einen Hut bringt. Es ist ein Softwarehaus mit unkonventionellen Strukturen und einem philosophisch-utopischen Dauerdiskurs in den Sitzungen:
"Kannst du dir vorstellen, dass du Gott Lohnarbeit geben würdest?"
Wer solche Fragen stellt, ist über die Mühsal von Tarifverhandlungen längst hinweg. Auch "Walden III" fehlt als Konzeptroman jede Handlung, doch intellektuell ist der Text anregender als seine Vorgänger. Das mag daran liegen, dass er noch zu frisch auf dem Tisch liegt, um uns als veraltet zu erscheinen – jenes Los, das jeglicher zeitgebundener Utopie irgendwann droht. Vielleicht sind Fragen der Zinswirtschaft, des gerechten Lohns und der Kosten von Arbeit ja irgendwann einvernehmlich geklärt. Dann würden wir auch bei Rolf Todesco müde gähnen und vielleicht zum Original der Originale zurückkehren: Thoreaus "Walden Eins", gewissermaßen. Denn das verkörpert die Romantik des richtigen Lebens in ruraler Reinkultur.
"Futurum Zwei" von Burrhus Frederic Skinner und "Futurum drei" von Rubén Ardila gibt es nur noch antiquarisch. "Walden III" von Rolf Todesco ist bei den entsprechenden Anbietern im Netz zu haben.
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