Gesellschaftliche Spaltung

Wie Risse tiefer werden - oder auch nicht

04:33 Minuten
Grafik einer Menschenmenge, die sich in der Mitte teilt. Eine einzelne Person läuft durch die Lücke.
Die "Spaltung der Gesellschaft" ist in aller Munde. Aber wir haben es letztlich selbst in der Hand, wie sich Spaltungsprozesse entwickeln, meint Michael Andrick. © Getty Images / gremlin
Eine Anregung von Michael Andrick · 12.02.2024
Audio herunterladen
Der Satz "Wir sind eine gespaltene Gesellschaft" geistert wie ein Mantra durch die öffentlichen Debatten. Aber so einfach ist es nicht. Spaltungsprozesse gebe es, doch wir hätten es in der Hand, sie zu bremsen, sagt der Philosoph Michael Andrick.
Der Ausdruck „Spaltung“ hat eine verwirrende Mehrdeutigkeit. Zum einen meinen wir damit den Zustand der Spaltung, zum anderen aber auch das spalterische Handeln, das diesen Zustand herbeiführt. Meistens wird der Begriff heute wild durcheinander in beiden Bedeutungen verwendet.
Aussagen wie „Die Grünen sind in Frage XY tief gespalten“ oder „Die Gesellschaft ist gespalten“ scheinen sich klar auf einen Zustand zu beziehen: Auf eine Partei beziehungsweise Gesellschaft, die in Teile auseinandergebrochen ist.
Ebenso geläufig wird aber auch gesagt: „Die Frage XY spaltet die Partei“ oder „Die Spaltung der Gesellschaft nimmt zu“. Hier wird Spaltung als etwas betrachtet, das gerade noch geschieht – und das wir deshalb auch beeinflussen können.
Wir täten besser daran, von Spaltung nicht mehr als einem gesellschaftlichen Zustand zu sprechen, sondern sie konsequent als einen Prozess zu begreifen, der sein schlimmes Endergebnis noch nicht erreicht hat. Das hat mehrere Vorteile.

Wir können etwas gegen Spaltung unternehmen

Zunächst ist es einfach korrekt: Eine Gesellschaft kann nicht gespalten sein, ohne aufzuhören, als eine Einheit zu existieren. Wird sie gespalten, so haben wir eben mehrere Gesellschaften, aber nicht mehr eine.
In Deutschland halten wir dieselben Gesetze ein, wir respektieren eine gemeinsame Staatsgewalt und wir bevölkern dasselbe Gebiet. Mag es auch ein hohes Maß an Entfremdung und Feindseligkeit unter ihren Mitgliedern geben - gespalten ist diese Gesellschaft nicht.
Außerdem weist uns das Verständnis von Spaltung als Prozess darauf hin, dass wir etwas dagegen unternehmen können. Bemerken wir im Alltag oder auch in Umfragen, dass Spaltung bei uns vor sich geht, dann muss irgendjemand hier gerade spalterisch handeln.

Sprachliche Schachzüge

Das können Menschen im Familien- und Freundeskreis sein, Journalisten, Politiker, Nicht-Regierungsorganisationen, durch Parteien, Gewerkschaften oder Unternehmen finanzierte Stiftungen. Und wir selbst.

Der Kern spalterischen Handelns liegt in einem sprachlichen Schachzug: Durch eine bestimmte Wortwahl wird der an sich unpersönliche Streit über eine Sachfrage in eine Diskussion über den Charakter der Beteiligten verwandelt. 
Ein unscheinbares Beispiel: Sagt meine Frau zu mir „Hör mir bitte erstmal zu“, so kann ich innehalten, und wir werden weiter das anstehende Problem diskutieren. Sagt sie stattdessen aber „Nie hörst du mir zu!“, so macht das Wörtchen „Nie“ ihre Anmerkung zu einen Angriff auf meinen Charakter: Ich bin wohl grundsätzlich respektlos, da ich nie zuhöre.

Von der Sache zur moralischen Bezichtigung

Solche Moralisierung erleben wir auch in der Politik immer wieder: Manche regten schon im Frühjahr 2022 auf Friedensdemonstrationen an, zur Beilegung des Ukrainekrieges russische wie ukrainische Interessen nüchtern zu benennen und zu berücksichtigen.
Solche Mitbürger nennt Sascha Lobo im "Spiegel" „Lumpenpazifisten“, die eine „zutiefst egozentrische Ideologie“ verträten und die dabei – dies ist ein wörtliches Zitat – „die eigene Ungerührtheit angesichts totgebombter Kinder“ in „maliziöser“ Weise „feiern“. 

Solche Anklagen, mit denen gewaltsam von der klärenden Diskussion einer Sache auf die moralische Bezichtigung von Personen umgeschaltet wird, führen zu einem Verteidigungsreflex: „Nein, ich bin nicht egozentrisch, und sterbende Kinder lassen mich nicht kalt!"

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Gleichgesinnte aller Lager solidarisieren sich in solchen Situationen – und dabei gelingt es fast nie, zur Sachdiskussion zurückzukehren. Wer als Person angegriffen wird, der wird kaum sachlich reagieren, und wer andere herabwürdigt, der wird hitzige Reaktionen als Bestätigung werten, im Recht zu sein.  

Damit gerät eine böse Dynamik in Gang, die auch bis zur realen Spaltung, das heißt, letztlich bis zum Zerfall einer Gesellschaft eskalieren kann.

Das sollte uns zeigen: Spaltung lebt vom Mitmachen, und jeder hat zuerst sich selbst zu prüfen, ob er vielleicht selbst mit von der Partie ist.

Michael Andrick ist Philosoph, Autor und Kolumnist. In seinem neuen Buch „Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden“ (Westend-Verlag) analysiert er die deutsche Diskussionskultur.

Mehr zu Diskussionen in der Gesellschaft