Kreuzberg im Ahrtal

Die Flut, mein Dorf und das Gefühl von Heimat

29:11 Minuten
Vor dramatischem Himmel erhebt sich ein zerfallenes Backsteinhaus umgeben von einer Brachfläche.
Ein Ort besonderer Erinnerungen: Die Scheune neben der alten Mühle in Kreuzberg ist verschwunden. © Deutschlandradio / Felicitas Boeselager
Von Felicitas Boeselager  · 19.12.2021
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Rund 70 Prozent des Heimatortes unserer Reporterin sind zerstört, aber auch das innere Gefüge im Dorf hat sich seit der Flut verschoben. Was Solidarität, Scham und der Verlust von Heimat mit den Menschen hier macht.
Kreuzberg, das ist mein Heimatort. Ein kleines Dorf im Ahrtal, in dem sich an diesem Nachmittag Ende November rund 20 Frauen versammelt haben, um gemeinsam Adventskränze zu binden.
„Wo kommen eure Kränze denn hin?“
„In die Asylwohnung. In die Übergangswohnung. Da haben wir nur einen kleinen Tisch, also muss ich einen kleinen Kranz machen. Kommt nicht viel drauf, aber wenigstens etwas und was selbst Gemachtes.“
Seit Mitte Juli wohnt Edith Asbach mit ihrem Mann in einer Einliegerwohnung zwei Dörfer weiter. In ihrem Haus in Kreuzberg stieg das Wasser der Flut im Juli bis in den zweiten Stock. Wann sie dort wieder einziehen können, wissen sie nicht, wahrscheinlich erst in einem Jahr.
Edith kenne ich schon, seit ich denken kann. An ihrem Haus führt ein kleiner Pfad vorbei, den ich mit meinen Eltern und Geschwistern früher häufig entlanggegangen bin.
Wenn Edith mit ihrem Mann im Garten saß, haben wir gewunken, oder für ein kurzes Zaungespräch angehalten. Ihre Tochter ist mit meinem jüngeren Bruder in eine Klasse gegangen. Ich heiße übrigens Felicitas und bin heute zum ersten Mal als Reporterin in Kreuzberg unterwegs.

Eine Scheune wird zum Dorfwohnzimmer

Edith bindet ihren Kranz an einem Stehtisch mit drei anderen Kreuzbergerinnen. Lisa hat früher immer mit meiner jüngeren Schwester gespielt, Sigrid ist eine Freundin meiner Mutter, Tanja habe ich schon häufig gesehen, aber erst heute lerne ich sie kennen. Sigrid ist die Einzige von ihnen, die schon wieder in Kreuzberg wohnen kann.
Bei ihr und ihrem Mann hat die Flut nur – so muss man das leider sagen – den Keller getroffen, ihr Haus lag hoch genug. So wie mein Elternhaus, das so hoch liegt, dass es ganz von der Flut verschont blieb.
In Kreuzberg sieht es auch fünf Monate nach der Flut noch verheerend aus, rund 70 Prozent des Ortes sind zerstört. Aber hier beim Adventskranzbinden scheint die Welt irgendwie in Ordnung. Wir haben uns im sogenannten Himmelreich getroffen. Einem leer stehenden Haus mit einem kleinen Hof und Scheune, das in den Tagen nach der Flut zum Lager für die unendlich vielen Sachspenden wurde.
In einem alten Fachwerkhaus ist eine gemütliche Sofaecke eingerichtet.
Das Himmelreich: Hier inzwischen ist eine Art Dorfwohnzimmer entstanden.© Deutschlandradio / Felicitas Boeselager
Inzwischen ist hier eine kleine Bücherei entstanden und die Scheune hat sich in ein gemütliches Wohnzimmer für das ganze Dorf verwandelt. Das Team lädt jeden Samstagnachmittag zu Kaffee, Kuchen ein – heute zum Adventskranzbinden mit Glühwein. Im Hof flackern Feuerkörbe, es stapeln sich Tannenzweige, Kerzen und Schmuck für die Kränze. Nächste Woche ist der erste Advent.

Auch der Weihnachtsschmuck ist weg

„Dieses Jahr wird Weihnachten bei uns nicht so stattfinden, wie es stattgefunden hat. Es ist nicht deine Wohnung, wo du bist. Und da haben wir als Familie jetzt gar nicht so Bock drauf, das so zu gestalten, wie wir das bis dato gemacht haben. Aber wie wir es letztendlich machen, wissen wir noch nicht“, erzählt Edith.
Auch ihre Tochter hat in der Flut alles verloren und wohnt jetzt in einer Wohnung eine halbe Stunde von Kreuzberg entfernt. Tanjas Tochter ist Teenager, da kann man Weihnachten nicht ausfallen lassen Sie will versuchen, es so weihnachtlich wie möglich zu machen, auch wenn sie nicht zu Hause sein können.
„Die Veränderung ist nur darin, dass wir keine Krippe mehr haben, weil die sieht gruselig aus. Die ist ein bisschen im Wasser aufgegangen. Das wird wahrscheinlich Heiligabend fehlen. Einen Baum wird es geben. Ich werde Plätzchen backen. Auch wenn ich denke, wie furchtbar, ich muss die auf dem Esstisch ausrollen, weil in der Küche kein Platz ist“, sagt sie.
„Du kannst backen, ich habe keinen Ofen, ich kann nicht backen,“ sagt Edith. Viele erzählen mir an diesem Nachmittag, dass die Adventszeit ihnen die Dimensionen der Dinge, die sie verloren haben, neu vor Augen führt. Christbaumkugeln, die Krippe der Oma, alte Räuchermännchen – alles ist weggeschwommen. In den Chaostagen im Juli hat an Weihnachten kaum einer gedacht.

Am Anfang war jeder für jeden da

Aber dieser Juli hat Kreuzberg nicht nur äußerlich verändert, auch das innere Dorfgefüge hat sich verschoben. „Am Anfang waren alle vor Ort und jeder brauchte und machte. Also da war jeder für jeden da.“ Durch die Flut haben sich Nachbarn kennengelernt, die sich vorher morgens in der Einfahrt höchstens kopfnickend begrüßt haben.
„Ich muss auch sagen, dass ich die Zeit ein bisschen vermisse. Also das klingt echt blöd, aber ich fand das echt schön, dass wir da so eine Gemeinschaft waren – und das ist jetzt so ein bisschen verloren gegangen. Weil ich jetzt auch nicht mehr so oft hier bin.“
Lisa ist Mitte 20 und wohnt zurzeit zusammen mit ihren Eltern in einer kleinen Wohnung in Bonn. Das liegt eine halbe Stunde von Kreuzberg entfernt. Sigrid nickt. „Deswegen es liegt an uns, da was draus zu machen und zu sagen – wo ist meine Schere? – wir brauchen Gemeinschaft und wir müssen was dafür tun, weil die kommt nicht von alleine. Sondern wir müssen was dafür tun.“
Auch meine Verbundenheit zu Kreuzberg ist seit der Flut viel stärker geworden. Dabei bin ich mit 18 Jahren hier weggezogen, also vor 15 Jahren.

"Komisch, dass wir so gezögert haben"

Agnes ist meine zwei Jahre ältere Schwester. Auch sie lebt schon lange nicht mehr hier und kommt – so wie ich – seit der Flut viel öfter heim als vorher.
„Wir beide sind ja erst am Sonntag nach der Flut nach Kreuzberg gekommen. Im Nachhinein erstaunlich spät, oder? Die Flut war von Mittwoch auf Donnerstag. Und wir kamen erst am Sonntag?“
„Ja, im Nachhinein komisch, dass wir so gezögert haben. Wir wussten, es gibt kein Wasser und keinen Strom. Und wir dachten, nicht, dass wir das wenige, was noch da war, aufbrauchen. Das war unsere größte Sorge, dass wir stören.“
Das war ziemlich dämlich von uns. Hier wurde jede Hand gebraucht. Aber weil sowohl das Festnetz als auch das Mobilfunknetz weg war, hatten wir lange keine Ahnung, wie es daheim eigentlich aussah.

„Ich merke, dass ich Angst hatte“

Agnes und ich stehen am Ortseingang vor Kreuzberg. Hier führt die Straße erst über einen Bahnübergang, dann über eine Brücke für Autos und Fußgänger über die Ahr in den Ort hinein. In den Tagen nach der Flut musste man das Auto weit vorm Dorf stehen lassen und zu Fuß laufen. Zusammen gehen wir diese Strecke noch einmal ab. Vorbei an der zerstörten Schranke, die wie ein abgebrochener Zahnstocher in die Luft ragt, an unterspülten Gleisen, über eine braun-matschige Straße.
„Und ich merke, wenn wir hier so lange gehen und ich den Moment nachempfinde. Ich merke, dass ich Angst hatte, vor dem, was mich hier erwartet. Also mein Herz fängt jetzt schon wieder an zu klopfen, wenn ich daran denke. Das ist schon ein ganz schön schwerer Gang gewesen.“
Am Sonntag nach der Flut sah Kreuzberg apokalyptisch aus. Es hingen Bäume und Autos in den Häusern. Vor unserer anderen Brücke, der Eisenbahnbrücke, stapelten sich zerbeulte Wohnwagen. Überall Schlamm, Dreck und Geröll. Ich kannte diesen Ort und habe ihn trotzdem nicht erkannt. Und das hat mich ziemlich erwischt.
Luftbild des Dorfes auf dem intakte Häuser aber auch Schlamm und überflutete Bereiche zu sehen sind.
"Ab hier sind die Gärten wieder grün und die Häuser intakt": Den höher gelegenen Teil von Kreuzberg erreichte die Flut nicht.© Deutschlandradio / Felicitas Boeselager
„Angesichts dieser ganzen Zerstörung wusste ich auf einmal nicht mehr, wie man einen Fuß vor den anderen setzt. Ich habe mich so gefragt: Wie läuft man eigentlich noch mal? Und dann habe ich so die Arme – das habe ich noch nie gemacht, so eine übertriebene Geste einfach wie in einem Film – habe ich die Arme über meinem Kopf zusammengeschlagen. So als wollte ich mich schützen.“

Ein Brückenteil weg - als wäre es aus Lego

Inzwischen ist die Verwüstung zwar irgendwie sortiert, aber sie bleibt. Auch wenn schon einiges passiert ist, geht der Wiederaufbau schleppend voran. Viele Menschen in Kreuzberg warten noch auf die Wiederaufbauhilfe vom Land Rheinland-Pfalz und zögern deshalb damit, Handwerker zu beauftragen.
Viele Häuser stehen leer, sind verbarrikadiert, die Fenster tot und die Fassaden verschlammt und: „Wenn man jetzt hier auf der Brücke steht, dann sieht man eigentlich ganz gut, was es in Kreuzberg alles nicht mehr gibt, was unsere Kindheit geprägt hat. Jetzt blicken wir gerade auf einen Schlammplatz, der früher einmal Kinderspielplatz und Sportplatz war.“
Und auf der anderen Seite fällt der Blick auf die zerstörte Eisenbahnbrücke. Ein ganzes Brückenelement ist schlicht rausgebrochen, als wäre es aus Lego. Agnes schüttelt den Kopf als sie herübersieht. „Das ist für mich irgendwie auch ein Landmark, wo mir das Herz schwer wird. Weil ich mich erinnere, wie wir als Kind immer spazieren gegangen sind und ‚Huhu‘ unter der Brücke gemacht haben.“
Und dann kam ein Echo zurück. „Und wenn man jetzt da ‚Huhu‘ macht, dann huhut man in den freien Himmel, da kommt dann kein ‚Huhu‘ zurück.“

Pegelstände an der Bruchsteinmauer

Über die Brücke gelangen wir an einen Kreisel in der Mitte des Dorfes, von hier aus gehen vier Straßen ab. Eine ist die Burgstraße, in der wir aufgewachsen sind. Diese Straße sind wir in unserem Leben unzählige Male hoch und runter gelaufen, zum kleinen Kreuzberger Bahnhof, zur Bushaltestelle, zu Freunden, oder zum Edeka.
„Das Schlimmste, was wir im Kopf hatten bei diesem Weg runter, war vielleicht: ‚Ich habe keinen Bock auf Schule.‘ Also ich habe diesen Weg als unendlich unbeschwert in Erinnerung.“
„Jetzt stehen wir genau an dem Punkt, an dem sich das Dorf teilt in den Teil, der verschont blieb von der Flut und den Teil, den die Flut erwischt hat.“
Hier hatte der Pegel um 23.00 Uhr seinen höchsten Stand erreicht. Zehn Meter hoch stieg die Ahr in dieser Nacht. Jemand hat die Pegelstände am 14. Juli mit rosa Farbe an eine Bruchsteinmauer gesprüht, sie sind inzwischen etwas verblasst. Ab hier sind die Gärten wieder grün und die Häuser intakt. Wie bei meinen Eltern. Total unwirklich.

Der Wurstkessel macht weiter

Zu denen die unten wohnen gehören die Schmitzens vom Restaurant „Im Wurstkessel“. Der Wurstkessel ist eine Institution in Kreuzberg. Die große alte Fachwerkvilla liegt nur wenige Meter vom Kreisel entfernt in der Bahnhofstraße.
Conny Schmitz und ihre Tochter Steffi Gies sitzen an Connys Küchentisch in ihrer Wohnung im ersten Stock im Hinterhof des Restaurants. Auch hier stand das Wasser. Ich kann kaum glauben, dass die beiden ihre Köpfe schon wieder über eine Einkaufsliste für ihren Bringdienst für Senioren und den Kindergarten beugen.
In den ersten Tagen nach der Flut hieß es im ganzen Dorf: Der Heino und die Conny vom Wurstkessel hören auf. Erst die Einbußen durch die Pandemie, dann zerstört die Flut das ganze Restaurant, der Gastraum musste abgerissen werden. Viele Kreuzberger aber wollten nicht akzeptieren, dass es den Wurstkessel nicht mehr geben soll, erzählt Conny. Sie haben sie überredet, wieder zu eröffnen.
„Und dann muss man das mal sacken lassen und dann denkt man auch an all die Leute, die für uns wichtig waren. Unsere Senioren, unsere Kindergartenkinder und dann denkt man drüber nach, ja über die Verantwortung, die wir haben. Diese Leute muss man ja auch irgendwann wieder bedienen“, sagt sie.
Wie die Schmitzens haben sich die meisten Kreuzberger dazu entschieden im Ort zu bleiben, aber rund 50 von den 600 Einwohnern werden nicht wiederkommen. 

"Es muss alles gut werden. Ende."

Während ich hier mit Conny und Steffi sitze, wird mir klar, wie hart die Flut sie getroffen hat: Die berufliche Existenz wurde weggeschwemmt, die privaten Wohnungen zerstört. Das Haus von Connys Bruder gab es nach der Flutnacht schlicht nicht mehr. Das Haus des anderen Bruders ist unbewohnbar. So wie auch Steffis Haus, das bis unters Dach volllief. Trotzdem sind sie hier ziemlich guter Laune.
Conny sagt, dass sie positiv bleiben will. „Ja, ist auch wichtig. Ich habe auch nie mal geweint, weil ich dachte, so jetzt hast du so viel verloren. Weil ich einfach gedacht habe, wenn du mit diesem Gedanken anfängst, dann zieht dich das runter. Und ich habe dann immer nur gedacht: Es ist doch alles gut, es wird alles gut, es muss alles gut werden. Ende.“
Vor einem alten Backsteinhaus liegen Schutt und Trümmer, eine Menschen und Schubkarren stehen davor.
In der nun zerstörten Scheune und im Garten der alten Mühle feierte Agnes ihren Polterabend.© Deutschlandradio / Felicitas Boeselager
Ich habe mir in den letzten Monaten oft gedacht, dass Weinen das Privileg derjenigen ist, die es nicht so hart getroffen hat. Ich habe immer wieder um Kreuzberg geweint, viele der freiwilligen Helfer brechen schon am Ortseingang in Tränen aus, obwohl sie vorher noch nie hier waren. Conny hat dafür keine Zeit. Ich frage sie und Steffi, ob sie es ungerecht finden, dass ein Teil des Ortes verschont blieb. Aber Steffi findet nicht, dass es irgendwen in Kreuzberg gibt, der nicht betroffen ist.
„Alle hatten ihre Entbehrungen. Sei es Strom, sei es Wasser, sei es Internet.“ Das war ja lange Zeit alles weg. „Die Fahrwege haben sich auch für die Leute auf dem Berg verändert.“ Weil so viele Straßen zerstört sind.
„Die leben ja auch jeden Tag in diesem Geschehen.“
Außerdem hätten diejenigen, die weniger betroffen waren den anderen geholfen. In den ersten Tagen das Essen mit ihnen geteilt zum Beispiel.

Die Stille nach der Flut

Während ich mit Conny und Steffi rede, spüre ich, wie verbunden sie mit Kreuzberg sind und wie ihre Geschichten auch mich irgendwie mit zu Hause verbinden. Conny erzählt von der komischen Stille nach der Flut, bevor sich unser Ort in eine ewig brummende Baustelle verwandelt hat.
„Was war das schön, als in der Kapelle dann irgendwann das Glockengeläut wieder angefangen hat. Man wusste wieder, was für eine Tageszeit es ist. Nein, das gehört einfach auch zum Ort, unser Kapellchen. Mal hingehen, sich mal grad setzen. Vielleicht mal ein bisschen schimpfen, vielleicht mal ein bisschen Dankbarkeit zeigen. Auch mal ein Kerzchen anmachen. Diese Dinge auch während der ganzen Corona-Zeit und während der Flut. Aso: nach der Flut, vor der Flut.“
Schräg gegenüber vom Wurstkessel liegt an einem kleinen Bach die sogenannte „Alte Mühle“. Das Mühlengebäude aus Bruchstein gehört zu den ältesten Häusern in Kreuzberg. Auf meinem Spaziergang mit Agnes gehen wir auch dorthin, weil dieser Ort für meine Schwester ganz besonders ist. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, ohne Tränen zu erzählen. Weil ich mit dem Ort hier, ich glaube, einen der schönsten und einen der schlimmsten Momente meines Lebens verbinde.“

Von Romantik keine Spur mehr

Zur alten Mühle gehörte eine Scheune, auch aus Bruchsteinen, fest gebaut. Sie hätte dem Wasser der Ahr wahrscheinlich standgehalten, wenn nicht ein Überseecontainer einer Baustelle von den Wassermassen mitgerissen und durch die Scheune gedonnert wäre. In dieser Scheune und im Garten der Mühle hat Agnes ihren Polterabend gefeiert.
Auf den Tag genau drei Jahre später war Agnes mit ein paar Freunden wieder hier, um die alte Mühle vom Schlamm zu befreien und auszuräumen. Die ehemalige Bewohnerin hat sich nicht mehr reingetraut. „Irgendwie war ich erst mal damit beschäftigt zu sehen, wie sie noch versucht hat, ihre Waschmaschine zu retten und mit einer Sackkarre in den ersten Stock gebracht hat, der dann aber auch voll Schlamm war.“
„Das konntest du so richtig sehen? Sozusagen die Spuren, die sie in der Nacht hinterlassen hat?“
„Ja, man hat richtig gesehen, wie sie versucht hat, wie sie alles, alles aus dem Erdgeschoss versucht hat in den ersten Stock zu retten. Und dann sah man beschriebene Papiere, im Schlamm aufgeweicht. Kleidung und Schuhe. Das ist einer der schlimmsten Momente, weil mir das auch so sehr die Angst der Nacht vor Augen geführt hat und die Zerstörung des persönlichen Hab und Guts und Lebens einer Person, in das ich dann auch noch eingedrungen bin. Das war ganz fürchterlich.“

Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, ohne Tränen zu erzählen. Weil ich mit dem Ort hier, ich glaube, einen der schönsten und einen der schlimmsten Momente meines Lebens verbinde.

Agnes

Auch jetzt stehen Agnes und ich wieder etwas hilflos vor dieser alten Mühle. Sie erzählt, wie sie zum ersten Mal wieder in den ehemaligen Mühlengarten gegangen ist. „Wo wir unseren Polterabend gefeiert haben, was wunderschön aussah, mit einem beleuchteten Baum, meinen engsten Freunden. Es war ein schöner Sommerabend. Und auf einmal stand ich vor nichts und all das, woran ich mich erinnert habe, war weg.“
Sogar der schöne alte Nussbaum hat kapituliert. Wo er stand, stehen jetzt große Bürocontainer im Schlamm, hier ist die zentrale Versorgungsstation der Malteser für die Mittelahr. Es brummt ein Stromgenerator, von Romantik keine Spur.

Vom Begreifen des Verlustes

„Ja, der Sahrbach war so beschaffen, weil er einen dichten Wuchs hat, dass da Wasseramsel-Pärchen gebrütet haben. Und dann waren noch Wildenten da und verschiedene Vogelarten. Es war überall Farn, überall Sträucher. Der Sahrbach selber hatte über angeschwemmte kleine Steine wie so Inselchen. Da konnte man sich drauf freuen, dass je nach Jahreszeit, wie durch einen unbekannten Gärtner, Pilze wuchsen und Flechten, kleine heranwachsende Bäumchen“, erzählt sie.
Der Sahrbach ist eigentlich ein schmales Bächlein, im Sommer trocknet er häufig aus. Diesen Juli drückte er sich, wenige Stunden bevor die Ahr über die Ufer trat, wie eine sechs Meter hohe Wasserwand in den hinteren Teil unseres Ortes und riss Autos, Straßen und Garagen mit sich.
Das, was meine Mutter eben beschrieben hat, ist jetzt eine schlammige, schottrige Brache. Als sie erfuhr, dass der Pfad am Sahrbach zerstört wurde, verlor sie fünf Tag nach der Flut das erste Mal die Fassung.
„Ich erinnere mich noch daran, weil ich bin da das erste Mal wieder in Kreuzberg gewesen und ich wusste schon: Was du in dieser Nacht, oder auch in den Tagen danach alles durchgemacht hast, was du gesehen hast, wie viel Leid du gesehen hast, wie viel Trauer – und dann war das der Moment, wo dann das Begreifen des Verlustes einsetzte bei dir. Und das fand ich so unglaublich, dass das dieser Ort ist.“
„Ich glaube, wenn man auf irgendeine Weise erleben kann, was einem Heimat, also die lokale Heimat, bedeutet, dann leider über den Verlust. Ich hätte nie gedacht, dass mir das derart nah geht, aber ja, so war es halt einfach.“

Pitschnasse Feuerwehrleute vor dem Kamin

Während wir hier über den aufgeweichten Weg gehen, sprechen wir wahrscheinlich zum hundertsten Mal über den vergangenen Sommer. Darüber, dass meine Mutter in dieser Nacht alleine zu Hause war und sich die pitschnassen Feuerwehrleute bei ihr vor dem Kamin versammelten. Sie hatten ihr Fahrzeug in den Fluten verloren und konnten niemandem mehr helfen.
Wie wir unsere Mutter über Tage nicht erreichen konnten, 24 Stunden nicht wussten, ob es ihr überhaupt gut geht. Nach vier Tagen hatten wir das erste Mal wieder richtig Kontakt. Ich saß im Auto, als meine Mutter mich anrief, und musste rechts ranfahren, weil ich geheult habe wie ein Schlosshund.
„Ja, ich erinnere mich, dass ich mich schlimmerweise beinahe gewundert habe, wie bewegt du reagiert hast, meine Stimme zu hören, weil ich ja dachte, ihr wisst, dass es mir gut geht.“
„Ja, das wusste ich seit Donnerstagabend. Aber das war wie der Beweis, als ich deine Stimme gehört habe. Natürlich ist in so einer Zeit der Katastrophe die Stimme der Mutter noch mal ein anderer Trigger.“
„Schau mal ein Fischreiher, das ist der erste Vogel, den ich hier wieder sehe.“
Nach unserem Spaziergang finde ich es gar nicht mehr abwegig, dass dieser Ort meiner Mutter so viel bedeutet. Im Gegenteil, es ist richtig schön, sich mit ihr an die kleinen Bäume und Inselchen zu erinnern und darauf zu freuen, wie es wird, wenn hier wieder Sträucher wachsen und Vögel brüten.

Ein Flutmuseum im Herzen des Dorfes

„Ja, herzlich willkommen sag ich mal.“ Das ist Katharina Bernhardt. Wie meine Eltern wohnt auch sie in dem Teil der Burgstraße, den das Wasser nicht erreicht hat. „Wir haben das ganze Flutmuseum in Themenbereiche eingeteilt und das ist eben der Themenbereich für diese Straße am Brunnen. Da sieht man, dass dort ganz viel Holz und Schrott angespült worden ist.“ Auf Fotos von den Tagen nach der Flut.
Das Flutmuseum ist in einem Zelt unten im Dorf vor unserer alten Schule. Auf dem Platz vor dem Zelt brennt ein Feuer, es gibt hier eine Pommesbude und die Bürocontainer der Ortsvorsteherin und der Feuerwehr. So steht das Flutmuseum im Herzen des Dorfes. Katharina hat es mit ein paar anderen Kreuzbergen zusammen konzipiert.
„Die Idee hatte unsere Ortsvorsteherin. Die hat gesagt wir müssen hier was machen, wir müssen auf der einen Seite eine Erinnerung schaffen und auf der anderen Seite auch ein Mahnmal. Es soll ja auch mahnen, dass halt was passieren muss im Hochwasserschutz – und das so was hier nicht alle Jahre wiederkommen soll.“

Wollen die Menschen alles noch mal sehen?

An den Zeltwänden des Museums hängen verdreckte Schaufeln, Besen, eine Schneeschippe, dreckige Handschuhe, Helme und staubige Atemmasken – und ganz, ganz viele Bilder. Zum Beispiel von einem Haus, bei dem die Fassade weggebrochen ist und man direkt in ein verwüstetes Wohnzimmer blicken kann.

Ja, wir hatten wirklich ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil wir das einzige Haus aus der ganzen Familie sind, das nicht betroffen ist.

Katharina Bernhardt

Obwohl ich diese Bilder so oder so ähnlich schon viele Male gesehen habe, verschlagen sie mir doch wieder den Atem. Und ich frage mich: Kommen wirklich auch die Menschen hierher, die das alles durchlebt haben? Wollen sie die traumatischen Bilder etwa noch mal sehen?
„Also es ist unterschiedlich, die Gäste hier im Flutmuseum sind durchaus auch Einheimische, die dann, wenn sie wissen, es guckt keiner und sie sind mal einen Moment für sich alleine, die dann hier durchgehen und die sehen dann auch ihr eigenen Haus auf den Bildern. Das nimmt die mit und die weinen dann auch. Es sind auch Helfer und Politiker, die dann hier mit der Ortvorsteherin sich treffen und reden.“
In der Hoffnung, dass Bilder besser vermitteln können, was allen Betroffenen so schwerfällt, in Worte zu fassen. Immer wieder, wenn ich mit Menschen über die Flut spreche, zücken sie ihr Handy und zeigen mir Fotos. So als würde es ihnen selbst helfen zu begreifen, was hier eigentlich passiert ist. „Und hier ist unser größtes Exponat, das kaputte Feuerwehrauto.“

Die Scham ist weg

Nach meinem Besuch im Flutmuseum laufen Katharina und ich gemeinsam durchs inzwischen dunkle Dorf Richtung Burgstraße nach Hause. „Wir haben ganz am Anfang schon darüber geredet, dass du nicht betroffen bist, ich auch nicht. Und du hast mir erzählt, dass du dich dafür geschämt hast, dass du von dem Wasser verschont bliebst. Ist das Gefühl immer noch da?“
„Nein, das Gefühl ist nicht mehr da und ich habe das auch recherchiert. Es gibt wohl diesen Begriff ‚survivers-guilt‘ und das scheint wohl ganz normal zu sein. Also war ich ganz beruhigt. Ja, wir hatten wirklich ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil wir das einzige Haus aus der ganzen Familie sind, das nicht betroffen ist.“
Inzwischen sieht Katharina es übrigens wie Steffi vom Wurstkessel. Sie glaubt auch, dass es niemanden in Kreuzberg gibt, der nicht betroffen ist. Katharina hat sich in den vergangenen Monaten sehr für Kreuzberg engagiert, hat Feste und Konzerte organisiert. Ich frage sie, ob das für sie ein Weg war, mit ihrem anfänglich schlechten Gewissen umzugehen?
„Nein, ich habe einfach gedacht, die anderen müssen alle an ihren Häusern arbeiten, das musst du jetzt nicht. Und jeder, der an seinem Haus arbeitet, trägt ja dazu bei, dass Kreuzberg wieder heil wird. Da ich ja nicht an meinem Haus arbeiten konnte, da ja nun mal nichts kaputtgegangen ist, habe ich gedacht: Okay, dann musst du halt irgendwas anderesmachen.“
Obwohl wir uns erst kurz kennen, gehört Katharina für mich nun genauso zu Kreuzberg, wie die Menschen mit denen ich hier aufgewachsen bin. Dabei wollte Katharina eigentlich nie so eng andocken im Ort, weil sie selbst aus einem Dorf kommt und ihr das als Kind und Jugendliche immer schnell zu viel und zu eng wurde.
„Und jetzt bist du Kreuzbergerin durch und durch.“
„Ja, im Moment 24 Stunden am Tag. Ich hoffe aber auch, dass das mal weniger wird. Aber so wie es jetzt ist, ist es auch gut so.“

Weihnachtsspenden aus ganz Deutschland

Zwei Wochen nach dem Adventskranzbinden ist in Kreuzberg Weihnachtsmarkt. Diesmal stehen kleine Holzbuden im Himmelreich, im Hof von Katharina und ihrem Mann und vor der Kapelle. In einer der Buden gibt es Weihnachtsschmuck aus Holz, ganze Krippen, Sterne und verschiedene Figuren.
Das Besondere an diesem Weihnachtsmarkt: Alles ist umsonst. Jeder kann sich so viel aussuchen, wie er oder sie will. Menschen aus ganz Deutschland haben Weihnachtsbäume, Kugeln, Seifen, Schokolade, Strickwaren – einfach alles – gespendet, was ein Weihnachtsmarkt zu bieten hat.
Ein rot glänzendes Dekoherz liegt im Dreck.
In den Tagen der Zerstörung im Juli hat an Weihnachten kaum jemand gedacht.© Deutschlandradio / Felicitas Boeselager
Viele Kreuzberger macht das sprachlos. Auch Lisa, die beim Kranzbinden noch bedauert hat, dass die Gemeinschaft langsam zu bröckeln beginnt.
„Ich fand es so überwältigend heute, ich habe heute, glaube ich, auch zum ersten Mal seit der Flut geweint. Also so glücklich geweint. Ich finde es so überwältigend, wie viele Leute so viel Einsatz zeigen. Jetzt ist Dezember und es ist immer noch so, dass so viele Menschen kommen und so viel Einsatz zeigen. Ja ich kann das noch nicht so ganz glauben“, sagt sie.
Seit der Flut ist fast an jedem Wochenende irgendeine Veranstaltung in Kreuzberg. Wir Rheinländer sind zwar dafür bekannt, dass wir kein Fest auslassen, aber trotzdem frage ich mich, ob sich das nicht irgendwann abnutzt?
Lisa glaubt nicht. „Gerade, wenn man nicht im Haus wohnt, sondern außerhalb, dann verliert man so ein bisschen den Kontakt. Das ist aber wichtig, um alles verarbeiten zu können und um auch nicht den Kontakt zum Dorf zu verlieren. Dafür sind Feste wichtig.“

Wir schließen Wetten über die Zukunft ab

Und um auch die vielen schönen Geschichten zu teilen, die sich hier abspielen. Zum Beispiel von Edith, die beim Adventskranzbinden erzählt hat, dass sie keinen Ofen mehr hat. „Zwei Wochen später kam die Tanja Fussenig-Hoffmann und hatte mir zwei Tüten Plätzchen vorbeigebracht. Hat gesagt: ‚Ich habe nie drüber nachgedacht‘, dass andere Leute nicht backen können. Und da habe ich mich so drüber gefreut.“
Der Weihnachtsmarkt geht noch bis tief in die Nacht. Ich mache mein Mikrofon irgendwann aus, weil die Geschichten dann erfahrungsgemäß noch besser werden und weil ich nicht mehr als Reporterin hier herumlaufen will.
Es wird ein richtig lustiger Abend. Wir stehen mit Glühwein am Feuer, reden über alte Zeiten und schließen Wetten über die Zukunft ab. Einmal muss ich so lachen, dass mir mein Bauch wehtut – auch das gehört wohl zum Verarbeiten einer Katastrophe dazu.

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