"Widerstand" gegen alles Mögliche

Von Klaus Schroeder · 17.07.2012
Immer wieder entsteht der Eindruck, die Behörden seien auf dem rechten Auge blind. Für die Öffentlichkeit dagegen gilt eher das Gegenteil, meint der Sozialwissenschaftler Klaus Schroeder.
Unmittelbar nachdem bekannt wurde, dass ein rassistisches Trio eine mörderische Blutspur durch Deutschland gezogen hatte, wurde behauptet, in den letzten Jahren sei der Rechtsextremismus verharmlost und der Linksextremismus überbetont worden. Wer jedoch die Berichterstattung und wissenschaftliche Publikationen aufmerksam verfolgt hat, stellte das Gegenteil fest: Nahezu täglich berichteten die Medien über tatsächliche oder vermeintliche rechtsextreme Gewalttaten.

Weitgehend ausgeblendet wurden dagegen der Linksextremismus und die von diesem Milieu ausgehenden Gewalttaten. Im Gegensatz zum Rechtsextremismus ist der aktuelle Linksextremismus auch kaum Thema in der Forschung. Warum? Ich fürchte, in den Augen vieler linker Wissenschaftler und Politiker kämpfen auch extrem Linke für eine "gute Sache", andere haben schlicht Angst.

Gewiss, die Mordserie rassistisch eingestellter Neonazis stellt eine neue Dimension rechtsextremer Gewalt dar. Gleichwohl gibt es keinerlei Rechtfertigung für minderschwere Gewalttaten aus anderen extremistischen Spektren. Im letzten Jahr verzeichneten die Ämter etwa 1700 extremistische Gewalttaten, die zu zwei Dritteln auf das links- und zu einem Drittel auf das rechtsextremistische Lager entfielen. Fast jede zweite Gewalttat war demnach eine Auseinandersetzung zwischen Links- und Rechtsextremisten. Beide Seiten versuchen offenbar, "Weimarer Verhältnisse" herzustellen.

Die meisten Linksextremen haben ein taktisches Verhältnis zur Gewalt, die sie für "revolutionär" erklären. Prinzipiell halten sie zum Sturz der jetzigen Gesellschaftsordnung die Anwendung von Gewalt für gerechtfertigt; uneins sind sie über den geeigneten Zeitpunkt. Ob sie gewalttätig werden oder nicht, entscheiden sie zumeist aus dem Augenblick heraus.

Seit mehreren Jahrzehnten suchen und finden einige tausend Autonome immer neue Anlässe zur Gewalt. Sie geben selbst an, dass sie Gewalt beziehungsweise Militanz für unverzichtbar halten, um einen Klassenkampf zu forcieren.

Die "Propaganda der Tat" soll zögernde Sympathisanten zum Kampf gegen das System ermuntern. Ihre eigene Gewalt begreifen Linksextreme als "Widerstand" gegen alles Mögliche, sei es gegen eine Gentrifizierung in den Großstädten, gegen die Räumung besetzter Häuser, gegen Globalisierung, gegen Rechts und so weiter. Ausgangspunkt ist eine behauptete strukturelle Gewalt des Systems, die mit "Gegengewalt" bekämpft werden müsse. Das staatliche Gewaltenmonopol und die Gewaltenteilung lehnen sie ab. Sie wollen nicht nur den Kapitalismus überwinden, sondern auch die freiheitliche Demokratie abschaffen. Ziel ist ein radikaler Systemwechsel.

Die Trennlinien zwischen demokratischen Linken, Linksradikalen und Linksextremen sind fließend. Immer wieder propagieren sie eine "Aktionseinheit". Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem Linksextremismus deutlich komplizierter als die mit dem Rechtsextremismus. Gleichwohl gibt es keinen Grund, Linksextremismus zu verharmlosen.

Rechts- wie Linksextremisten und Islamisten haben unterschiedliche Motive und Ziele, aber fundamentalistisches Denken und Hass auf das Bestehende System haben sie gemeinsam. Bislang geht von ihnen nur ein geringes demokratiegefährdendes Potenzial aus. Aber wenn sich die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen verschlechtern, könnte sich dies schnell ändern.

Extremisten muss klargemacht werden, dass es auch für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft Grenzen der Toleranz gibt. Die Zurückweisung und Bekämpfung von Extremismus jeglicher Couleur sollte in unserer Gesellschaft selbstverständlich sein. Vor lauter Entsetzen über die rechtsextremen Morde dürfen wir nun nicht den Fehler machen, Linksextremisten zu verharmlosen. Ob wir dies antitotalitären Konsens oder Stärkung der Demokratie nennen, ist dabei unerheblich.

Klaus Schroeder, Sozialwissenschaftler, geboren 1949 in Lübeck, leitet an der Freien Universität Berlin den Forschungsverbund SED-Staat und die Arbeitsstelle Politik und Technik und ist Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Letzte Veröffentlichungen: "Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990", Hanser-Verlag, München 1998; "Der Preis der Einheit. Eine Bilanz", Hanser-Verlag, München 2000; "Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich", Schöningh-Verlag, Paderborn 2004. "Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung", Verlag Ernst Vögel, Stamsried 2006. "Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern", zus. mit Monika Deutz-Schroeder, Verlag Ernst Vögel 2008, "Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört", wjs-Verlag 2010. "Die DDR. Geschichte und Strukturen", Reclam 2011.
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