"Widerstand" am Schauspiel Leipzig

Zerfall in der ostdeutschen Provinz

07:35 Minuten
Schauspieler Tilo Krügel und Schauspielerin Teresa Schergaut sitzen sich gegenüber an einem Tisch auf der Theaterbühne am Schauspiel Leipzig - während des Stücks "Widerstand" von Lukas Rietzschel.
Nah und dennoch distanziert: Tilo Krügel und Teresa Schergaut im Stück "Widerstand" in Leipzig. © Schauspiel Leipzig
Von Michael Laages · 14.05.2021
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"Widerstand" ist Lukas Rietzschels erstes Stück, das er im Auftrag des Theaters Leipzig geschrieben hat. In ihm schildert der junge Autor eine kranke Welt, die hoffnungslos dem Ende entgegen dämmert. Mehrere Mini-Dramen, lakonisch und kalt inszeniert.
Der Autor weiß, wovon er spricht. Lukas Rietzschel, geboren 1994 im ostsächsischen Räckelwitz, lebt in Görlitz und hat stets die Nachbarschaft ins Visier genommen. "Mit der Faust in die Welt schlagen" hieß das Roman-Debüt. Rietzschel erzählte darin von zwei Brüdern, die in den Abgrund ganz rechtsaußen driften, ohne Halt und ohne Zukunft. Auf Theaterbühnen, etwa zu Beginn der Spielzeit am Neuen Theater in Halle, sah das sehr nach Holzschnitt aus, nach Abziehbildern einer verlorenen Welt.
"Widerstand", Rietzschels jetzt in Leipzig uraufgeführtes Stück, erstmals im Auftrag eines Theaters entstanden, gibt den Menschen in dieser aus der Zivilisation stürzenden Gesellschaft deutlich mehr Geschichte und persönliches Profil.
Schauspieler Tilo Krügel sitzt im Stück "Widerstand" von Lukas Rietzschel am Schauspiel Leipzig auf der Bühne an einem Tisch im Rampenlicht.
Szenische Miniaturen aus Tisch und Stuhl stellt Bühnenbildner Hugo Gretler auf die kleine Drehbühnen-Welt.© Schauspiel Leipzig
Geschickt verstrickt Rietzschel mehrere thematische Bewegungen miteinander, und alle zeigen Zerfall – zwischen der großen Stadt und der entkernten Provinz, zwischen Frauen und Männern, zwischen letztem Rest von Zivilisation und richtungslos-rechtem Terror. Rietzschels kleine Welt ist krank, dämmert hoffnungslos dem Ende entgegen.
Gerade ist die Tochter nach Hause gekommen ins Dorf. Ärztin ist sie geworden in Leipzig, die Provinz, die sie hinter sich gelassen hat, kann und mag sie nicht mehr verstehen. Die Mutter ist todkrank, der Vater hat sie jahrelang gepflegt und sich derweil auf eine Affäre mit der Physiotherapeutin eingelassen, die ihn nach einem Bandscheibenvorfall betreut. Mit immer weniger Erfolg fährt dieser Vater als Versicherungsvertreter über Land, säuft abends mit den Kumpels, einem Gelegenheitsjobber und einem Polizisten, und heckt mit diesen beiden kleinkriminelle Aktionen aus, die die drei für "Widerstand" halten. Der Polizist besorgt eine Armbrust (für die kein Waffenschein nötig ist), mit der dieser abgehängte Untergeher Panik verbreiten will, wenn er nachts im Auto sitzt. Auf irgendetwas will er schießen, sagt er, am besten auf "den Staat".
Lauter Verlierer also trifft die Tochter. Die Welt, aus der sie kam, ist untergegangen, und nichts ist neu entstanden. Der Bahnhof steht leer, Schienen und Schwellen sind herausgebrochen. Der Billigjobber würde am liebsten versuchen, das Holz in Leipzig, der großen Stadt, als Antiquität zu verscherbeln. An die Heimkehrerin erinnert er sich als "große Liebe" von früher und würde ihr so gerne zeigen, was er alles kann als starker Mann – aber sie lässt ihn abblitzen. Schlimmer noch: Als die kleinen Widerstandsaktionen aufzufliegen drohen, vor allem der Waffendeal, stellt der Polizist (um die eigene Haut zu retten) den Jungen als Alleinschuldigen hin und erschießt ihn.

Dem Alltagswesen ein Schicksal gegeben

Rietzschel skizziert diese ineinandergreifenden Mini-Dramen lakonisch und kalt. Der Theater-Film, der jetzt in Leipzig entstand, taucht diese Mitleidlosigkeit in einfache, aber künstliche Bilder. Im Zentrum steht eine kleine Drehbühne mit durchsichtigen Vorhängen drumherum. Szenische Miniaturen stellt Bühnenbildner Hugo Gretler auf diese kreiselnde Welt: Tisch, Stühle, Bett. Die Menschen darin wirken wie lebende Puppen, ausgestopft und wie eingezwängt in die Kostüme von Teresa Vergho, immer überschminkt und wie maskiert. Aber zu Abziehbildern und grob gezeichneten Karikaturen werden sie nicht. Das war noch so bei "Mit der Faust in die Welt schlagen". Jetzt aber hat Autor Rietzschel den Alltagswesen richtige Geschichten gegeben, ein Schicksal.
Der junge Autor ist auf bestem Weg zum Dramatiker. Das Schauspiel Leipzig tat gut daran, ihm diesen Stückauftrag zu geben. Sobald allerdings wieder normal und auf richtigen Bühnen gespielt werden kann, muss das Team um Intendant Lübbe noch einmal ran – fürs Erste war tatsächlich "nur" ein Theater-Film zu sehen. Die Zweit-Premiere steht noch bevor.

"Widerstand" von Lukas Rietzschel
Regie: Enrico Lübbe
Noch an zwei Terminen als Stream: 18. Mai und 25. Mai 2021
Schauspiel Leipzig

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