Ost-West-Gespräch

Streitkultur ohne Kultur

16:57 Minuten
Eine Illustration zeigt zwei sich streitende Personen.
Geredet wird viel, aber raus kommt eher wenig, meinen Meredith Haaf und Lukas Rietzschel. © imago images / fStop Images / Malte Mueller
Meredith Haaf und Lukas Rietzschel im Gespräch mit Dieter Kassel · 06.11.2019
Audio herunterladen
Die Journalistin Meredith Haaf (West) und der Schriftsteller Lukas Rietzschel (Ost) sind sich einig: Politisch gestritten wird in Deutschland viel, aber nicht ergebnisoffen. Und wer gekränkt ist, kann nicht gut diskutieren.
Wie reden wir miteinander? Die Journalistin Meredith Haaf kommt aus dem Westen, der Schriftsteller Lukas Rietzschel aus dem Osten. Beide sind sich einig, dass das nicht nur eine Ost-West-Frage ist - deswegen dreht sich ihr von Dieter Kassel moderiertes Gespräch auch anfangs eher um grundsätzliche Aspekte des politischen und gesellschaftlichen Streits in Deutschland.
Geredet wird viel - aber raus kommt eher wenig - so analysieren es Haaf und Rietzschel gemeinsam. Rietzschel sagt, er sei manchmal "ganz schön ermüdet und angestrengt" von politischen Debatten. Er sage sich immer wieder selbst, wie wichtig der Diskurs eigentlich sei: "Aber in der Realität gehe ich immer sehr depremiert nach Hause." Sein Fazit: "Ich erlebe keine Annäherung." Streit sei zum Selbstzweck geworden.
Journalistin Meredith Haaf
Meredith Haaf: Ihr Buch "Streit - Eine Aufforderung" ist bei dtv erschienen.© Tanja Kernweiss
Haaf spricht am Beispiel des Themas Feminismus von einer "kommunikativen Verausgabung". Diese sei sinnlos und mache keinen Spaß: "Und dann kommt der Frust." Sie stellt fest: In politischen Streits verschanze man sich hinter bestimmten Positionen, ohne diese zur Debatte stellen zu wollen. "Das ist ein Problem."
Eine echte Auseinandersetzung finde nicht oft statt. Dabei sei der Prozess des Streitens auch schon viel wert. Dafür sei aber das Bewusstsein nicht vorhanden. Streiten werde nicht genügend eingeübt.

Feindlichkeit gegenüber dem Widerspruch

Rietzschel klagt entsprechend über eine "Feindlichkeit gegenüber Widersprüchen", die er nicht nur am rechten Rand, sondern auch zum Beispiel bei "Fridays for Future" beobachtet hat. Es gebe dort eine abwertende Haltung gegenüber dem Konsens und langsamen, politischen Entscheidungsfindungen. Das sei beängstigend.
Zur deutschen Debatte um Wessis und Ossis sagt Rietzschel: "Natürlich kann man gelassen miteinander streiten, aber dass kann man nur dann, wenn man sich nicht angegriffen fühlt. Wenn alles auf dem Tisch liegt. Wenn man sich über sich selbst im Klaren ist."
Der Autor Lukas Rietzschel
Lukas Rietzschel: Sein Debüt-Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" wurde sehr positiv von der Kritik aufgenommen.© Gerald von Foris
Diesen Zustand sieht Rietzschel noch längst nicht erreicht. Im Osten breche immer wieder die Identifikationsfrage auf, analysiert er. Erst wenn diese geklärt sei, könne Gelassenheit eintreten: "Und dann kann man auch anders diskutieren." Doch solange das nicht stattgefunden habe, verwischten die Ebenen, und es gehe eben dann auch um persönliche Kränkungen und Vorurteile. "Und das ist eben das Ermüdende, wo ich merke: Wir kommen hier noch nicht richtig zusammen."
(ahe)

Ist es 30 Jahre nach dem Mauerfall eigentlich noch wichtig, ob man aus dem Osten oder Westen Deutschlands kommt? Das diskutiert "Studio 9" in dieser Woche anhand großer Themen: Solidarität, Gleichberechtigung, Identitäten, Kunstfreiheit, Streitkultur – Wie prägt die Herkunft aus Ost und West die Person und ihr Denken darüber? Das fragen wir jeweils zwei Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft – und immer: aus Ost und aus West. Sechs Gespräche über Gemeinsamkeiten und Unterschiede – vom 4. bis zum 9. November 2019, jeden Morgen in "Studio 9".

Mehr zum Thema