Widersprüchlichkeit einer Stadt

Von Anette Schneider |
Paris und New York - beide Metropolen sind Hauptstädte der Fotografie. Das Bucerius Kunst Forum in Hamburg widmet sich diesem Phänomen: "New York Photography" zeigt Werke, die zwischen 1890 und 1950 entstanden und verdeutlicht, wie sich Fotografen der Weltstadt näherten.
Kodak machte es möglich! 1910 besaß ein Drittel aller nordamerikanischen Haushalte eine Kamera. Im Land wimmelte es von Amateur- und Hobbyfotografen. Ein Albtraum für jemanden wie Alfred Stieglitz, der - nach Studienjahren in Europa - in den USA Fotografie als Kunst durchsetzen wollte, so Ortrud Westheider, Direktorin des Bucerius Kunst Forums:

"Und Stieglitz versammelte in der von ihm begründeten Gruppe 'Fotosezession' eben Künstler wie Steichen, wie Gertrude Käsebier, wie Coburn. Und mit ihnen hat er dann, das war das große Projekt, sein großes Anliegen eben, dafür gekämpft, dass die Fotografie zur Kunst wurde - und sich damit eben ganz stark von den Amateurkreisen abgegrenzt."

Mit Arbeiten dieser Gruppe eröffnet die Ausstellung: Im ersten Stockwerk verwandeln Weichzeichner und Negativbearbeitung fotografierte Landschaften, Interieurs und Porträts in verträumte Malerei, in impressionistische und symbolistische Gemälde. Diese Vorstellung von Fotografie wurde von anderen heftig kritisiert, denen es wichtiger war, das Leben zu zeigen. Das ganze Leben.

"Es war natürlich so, dass man diese Vielschichtigkeit, überhaupt das moderne Lebensgefühl, mit dem neuen Tempo, den neuen Techniken - Ingenieurskunst usw., das versucht man natürlich auch darzustellen, überhaupt das Gefühl, in der Metropole zu sein."

Die Arbeit dieser Fotografinnen und Fotografen wird im Erdgeschoss vorgestellt: Margaret Bourke-White, Ilse Bing, Walker Evans, Andreas Feininger, Weegee und viele andere gingen raus auf die Straße. Mit der Kamera in der Hand ließen sie sich durch die Stadt treiben, suchten nach Möglichkeiten, das neue Lebensgefühl einzufangen: Sie fotografierten die rasant wachsende Skyline als Ganzes und im Detail. Sie hielten Aus- und Anschnitte großer Bauvorhaben fest.

Den Bau des Chrysler-Buildings, Brückenpfeiler, gespannte Stahlseile, Kranausleger auf denen Arbeiter balancieren. Fasziniert folgten sie mit der Kamera den immer schneller, immer höher, immer maßloser aufsteigenden Wolkenkratzern in den Himmel. Andere - wie Charles Sheeler oder Berenice Abbott - blickten von dort zurück in die Tiefe und entdeckten das von Abriss bedrohte alte New York.

Je maßloser die Bauvorhaben wurden, desto skeptischer wurde ihr Blick - bis einige begannen, die anmaßenden, glitzernden Fassaden aufzubrechen, ihre Flächen zu zerlegen, zu sprengen.

"Oder Berenice Abbott, oder Lisett Model, die die Spiegelungen in den Schaufenstern aufgreifen, sodass es eben zu einer simultanen Erfassung dieser verschiedenen Realitätsebenen der modernen Stadt dann zusammenführt."

Eindrucksvoll führen die ausgewählten knapp 180 Fotografien New Yorks Großartigkeit und Brutalität vor - und das, was Fotografen zwischen 1890 und 1950 sehen wollten, und was nicht. Natürlich trifft man auf Ikonen - etwa von Andreas Feininger - die das Bild der Metropole bis heute prägen. Doch nicht deshalb ist die Ausstellung gelungen. Sie erstaunt, weil sie der Kehrseite von glänzenden Fassaden, Luxus und Hybris so viel Raum lässt: bereits 1905 dokumentierte Lewis Hine Kinderarbeit und den Alltag von Immigranten in Ellis Island. Ab Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre hinterließen Weltwirtschaftskrise, Armut sowie die Erfahrungen jüdischer Exilanten dunkle Spuren in der Fotografie. Und, so Ortrud Westheider:

"In den 30er-, 40er-Jahren gibt es auch eine große Sensibilität auch schon für Kranke oder alte Menschen, die einfach auf der Straße sind, die den Blicken der Fotografen ausgesetzt sind. Von Paul Strand gibt es dieses ganz wichtige Foto 'blind', wo er eine Frau, die ein Schild umhat, wo 'blind' draufsteht, fotografiert hat. Und da geht es natürlich auch darum, wieweit der Fotograf Voyeur ist."

Andere nutzten betont strenge Kompositionen und harte Lichtkontraste, um die Härte der sozialen Widersprüche zu spiegeln. Kein Zufall dürfte sein, dass die beiden verstörendsten Serien von jüdischen Flüchtlingen stammen: Jerry Cookie hielt 1946 Missstände in der Psychiatrie fest, erzählt damit vom Wert des Menschen im Kapitalismus.

Marion Palfi, die 1940 aus Berlin über Amsterdam nach New York floh, fotografierte für ein afro-amerikanisches Magazin die unbestraften Täter eines Lynchmordes: Lachend, ohne Reue, stellen sie sich der Kamera.

So führt die Ausstellung nicht nur die künstlerische Entwicklung der New-York-Fotografie vor: Immer tiefer ziehen die Arbeiten den Betrachter hinein in die Widersprüchlichkeit der schrecklich-großartigen Stadt.

Und die enge, labyrinthafte Ausstellungsarchitektur aus hohen, dunkelgrauen Wänden zwingt den Betrachter dazu, sich auch all das anzusehen, was er in den wirklichen Straßenschluchten des Big Apple vielleicht lieber ignoriert.
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