Wichtigster französischer Literaturpreis

Wer gewinnt den Prix Goncourt?

Leila Slimani erhielt am 03.11.2016 den Prix Goncourt in Paris
Charmantes Ritual: Wer den Prix Goncourt gewinnt, darf danach aus dem Restaurant "Le Drouant" winken. Im letzten Jahr war dies Leila Slimani. © imago/PanoramiC
Von Dirk Fuhrig · 06.11.2017
Der Prix Goncourt ist das literarische Ereignis in Frankreich schlechthin - zwei Autorinnen und zwei Autoren dürfen sich in diesem Jahr Hoffnungen auf die begehrte Auszeichnung machen. Unser Literaturkritiker hat die vier Finalisten gelesen - und einen glasklaren Favoriten.
Die Vergabe des "Prix Goncourt" ist der jährliche Höhepunkt des literarischen Lebens in Frankreich. Am Montag, den 6. November, ist es wieder soweit. Dann tritt um 13 Uhr die Jury unter dem Vorsitz von Literaturkritiker Bernard Pivot an die Öffentlichkeit. Es ist jedes Jahr dasselbe, charmante Ritual - nämlich großes Theater: Verkündet wird der Preis im Restaurant "Le Drouant" in der Nähe der Pariser Oper. Der oder die Auserwählte eilt dann entweder von zu Hause, meist aber vom Verlag aus dorthin. Dann winken sie zusammen mit der Jury aus einem Fenster im ersten Stock des Restaurants.
Der Preis selbst ist mit gerade mal zehn Euro dotiert. Wer ihn gewinnt, erfreut sich aber einer enormen Aufmerksamkeit. Die Durchschnittsauflage liegt bei 350.000 Exemplaren. Es ist wirklich das Literaturereignis in Frankreich, auf das alle hinfiebern.
Alle Goncourt-Kandidaten sind brandneu, die Bücher sind erst in diesem Jahr erschienen, aber noch nicht übersetzt. Unser Literaturkritiker Dirk Fuhrig hat sie vorab gelesen - hier seine Einschätzungen:

Alice Zeniter: "L'Art de Perdre"

Zu deutsch: "Die Kunst der Niederlage". Ein 500 Seiten starker Roman über eine junge Frau, die in Frankreich aufgewachsen ist und "ihre Wurzeln sucht". Es geht um die Folgen der Kolonialzeit und um Algerien, erzählt am Schicksal einer Familie von "Harkis". "Harkis", das waren die Algerier, die auf der Seite der Franzosen standen, auch für sie gekämpft haben - gegen die Aufständischen.
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"L'Art de Perdre"© Editions Flammarion
Viele von ihnen bekamen das Recht, nachdem Frankreich den Krieg verloren hatte, nach Frankreich zu übersiedeln. Sie wären in ihrer Heimat von Verfolgung bedroht gewesen. Das Buch gibt tiefe Einblicke in die algerische Gesellschaft, die Zerrissenheit während des Kriegs, der für die einen eine Befreiung, für die anderen eine Niederlage, mit Beendigung des Kolonialkriegs. Zeniters Buch ist sehr beeindruckend und vor allem auch lehrreich, was die Situation der Algerier betrifft.
Alice Zeniter, 1986 geboren, hat über ihre Großeltern selbst einen algerischen Hintergrund. Aber es ist ihr erstes Buch über dieses Thema. In Frankreich hat sie damit bereits den Preis der Zeitung "Le Monde" bekommen - ebenfalls ein wichtiger Preis: Doch die Auszeichnung könnte auch ein Ausschlusskriterium für den Prix Goncourt sein.

Véronique Olmi: "Bakhita"

Die Autorin Véronique Olmi, Jahrgang 1962, ist in Frankreich nicht zuletzt aus dem Theater bekannt. Auch in Deutschland kennt man sie bereits. Ihre Heldinnen sind fast immer Frauen. Die Bücher sind manchmal sehr nahe am Liebesroman, vielleicht ein bisschen kitschig. Für "Bakhita" gilt dies nicht so sehr. In diesem Roman steht eine reale Person im Mittelpunkt, nämlich Josefine Bakhita, eine Frau, die Ende des 19. Jahrhunderts im Sudan, in der Region Darfur geboren wurde und später in Italien in einen christlichen Orden eintrat. Und das, nachdem sie eine Odyssee als Sklavin hinter sich hatte.
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"Bakhita"© Albin Michel
Als Kind geraubt, am Rande ihres Dorfes, verschleppt, verkauft, sexuell missbraucht. Schließlich wurde sie an einen italienischen Diplomaten verkauft, der sie nach Venedig brachte. Sie kam zu den Nonnen, die sich dafür einsetzten, sie aus der Sklaverei zu befreien. Bakhita wurde dann zu einer Mildtäterin, die eine besondere Gabe entwickelt hat: Sie kann gut auf Menschen zugehen. Sie wurde nach ihrem Tod selig- und dann heiliggesprochen.
Es ist eine erschütternde Geschichte über eine Sklavenhaltergesellschaft in Nordafrika, über die Kolonialzeit. Josefine Bakhita hat Aufzeichnungen über ihr Leben geführt, die die Grundlage des Romans bilden. Trotz des wuchtigen Themas ist das Buch aber nicht unbedingt mein Favorit. Es ist einfühlsam erzählt, aber vielleicht ein bisschen dick aufgetragen.

Eric Vuillard: "L'Ordre du jour"

Zu deutsch: "Tagesbefehl" oder" Tagesordnung". Ein schmales Bändchen, auf dem Umschlag ein Bild von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. 20. Februar 1933, das berühmte Geheimtreffen Adolf Hitlers mit den Industriekapitänen Deutschlands. Danach springt Vuillard ins Jahr 1938, als der Anschluss Österreichs kurz bevorsteht. Jetzt: 12. März 1938 - der Anschluss Österreichs. Vuillard schildert die letzten Stunden vor dem Einmarsch. Es geht um Kurt Schuschnigg und Konsorten, also die willfährigen österreichischen Politiker.
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"L'Ordre de Jour"© Actes Sud
Vuillard wählt eine ganz persönliche Perspektive: Nicht die eines Historikers, sondern sie setzt sich zusammen aus den Kleinlichkeiten und Unentschlossenheiten der Individuen - die handeln oder eben nicht handeln. Es zeigt sich eine unfassbare Lethargie, Willfährigkeit und Selbstbezogenheit der führenden Österreicher und Opportunisten, denen die Demokratie und das Parlament völlig egal sind. Die sich den deutschen Befehlen fast lustvoll hingeben.
Eric Vuillard ist bekannt für diese Methode, Geschichte in kurzen Momenten zu kondensieren und neu zu erzählen. So hat er sich schon in einem Buch über Buffalo Bill der Kriege im Wilden Westen angenommen und die Grausamkeiten dieses Vernichtungsfeldzugs gegen die Indianer gezeigt. Ein anderes Buch handelt von der Berliner Kongo-Konferenz, bei der Afrika aufgeteilt wurde. Eric Vuillard ist außerdem auch Filmemacher, daher passt es: alles in ein Bild, in einen Tag, in eine Szene packen.
In Frankreich erscheinen seine Bücher übrigens bei Actes Sud, einem sehr erfolgreichen Verlag aus Arles, der in den letzten Jahren die Goncourt-Preis-Träger regelrecht sammelte. Die Verlegerin ist jetzt unter Präsident Emmanuel Macron Kulturministerin geworden: Françoise Nyssen. In Deutschland erscheinen Vuillards Bücher bei Matthes & Seitz, ebenfalls ein Aufsteiger-Verlag, der viele Preise einheimst.
Sein nominierter Roman liest sich gut und spannend, aber es ist auch ein bisschen eindimensional geraten - vor allem als Geschichtswerk. Wobei: Er schafft es natürlich, die oftmals schwere historische Kost gut lesbar und prägnant aufzuarbeiten. Einen Literaturpreis wie den Goncourt würde ich ihm allerdings nicht geben.

Yannick Haenel: "Tiens ferme ta couronne"

Zu deutsch: "Halt deine Krone fest" oder "Pass auf deine Krone auf". Ein wirklich außergewöhnliches und tolles Buch. Schon der Titel sagt ja, dass es sich hier wohl um etwas Komisches handelt: Hat etwas mit einem König zu tun, könnte aber auch aus dem Bereich der Zahnheilkunde stammen.
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"Tiens Ferme ta couronne"© Gallimard
"Damals war ich verrückt" - mit diesem Satz beginnt der Roman über einen mittellosen Schriftsteller, der unbedingt ein "verrücktes" Projekt umsetzen will, gegen alle Widerstände, der besessen ist von seinem Drehbuch über Hermann Melville, den Autor von "Moby Dick". Es geht um das Filmbusiness: Ein verwahrloster Bohémien, Film-Fanatiker, will unbedingt einen Film machen.
Er schaut von morgens bis abends immer dieselben Filme: "Apocalypse Now" (Francis Ford Coppola) und Filme von Michael Cimino, wie etwa "Die durch die Hölle gehen". Der hat auch mit Isabelle Huppert gedreht, in "Heaven’s Gate" hat sie mitgespielt. Und Huppert tritt auch auf als Romanfigur, in einer irren Szene bei "Bofinger", das ist eine sehr bekannte Brasserie in Paris.
Es geht um einen in seine eigene Seltsamkeit verstrickten Monomanen, die Karikatur eines Pariser Bohémiens - und das auch noch vor dem Hintergrund der Anschläge auf die Cafés in Paris vor zwei Jahren. Haenel erzählt in knappen, schnellen, hektischen Sätze aus der Ich-Perspektive. So, als würde er sie in ein Mikrofon sprechen. Man denkt manchmal an Woody Allen, der ohne Unterlass immer weiter sprudelt und sprudelt in seinen Filmen.
Also: Gesprochene Sprache, Alltagssprache. Aber sehr kunstvoll, ironisch, mit vielen Pointen. Eine 300-seitige Selbstentäußerung. Ein atemloser Text, der einen sofort mitreißt. Es geht um Genialität, um das fanatische Brennen für eine Sache, um das Big Business im Film, um Frankreich und Amerika, um Film und Literatur. Eigentlich um alles, aber unglaublich geistreich, ironisch, witzig. Ziemlich durchgedreht - was will man mehr?
Klarer Fall: Für mich der Kandidat für den Prix Goncourt. Wobei wahrscheinlich Alice Zeniter mit ihrer algerischen "Kunst der Niederlage" gewinnen wird - oder Véronique Olmi als Kompromisskandidatin.
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