Wetzlarer Wahrzeichen

Ein gebrochenes Herz und eine Kamera

44:18 Minuten
Christiane Spory steht vor einem Graffiti, das den jungen Goethe und Charltote Buff zeigt.
Goethe aus der Spraydose: Die Liebe des jungen Dichters zu Charlotte Buff inspiriert Künstler in Wetzlar bis heute. © Klaus Wilhelm / Deutschlandradio
Von Klaus Wilhelm · 18.08.2019
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Goethe ließ in Wetzlar seinen Werther schmachten, Oskar Barnack erfand dort die erste Kleinbildkamera. Der Briefroman und die Leica wirkten weit über das mittelhessische Provinzstädtchen hinaus – und prägen das Stadtbild bis heute.
Wetzlar an der Lahn. Ein malerisches Provinzstädtchen zwischen Mittelalter und Hightech. Hier spiegeln sich einige der helleren Seiten der Deutschen so klar wie die Brücken der Lahn im Schein der nachmittäglichen Sonne. Wetzlar ist Goethestadt: Der Deutschen größter Dichter verknallte sich hier Hals über Kopf und ließ sich zum Werther hinreißen. Vor allem aber ist Wetzlar seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Stadt des Lichts und seiner Wissenschaft, der Optik, die hier jeder sinnlich erfahren kann. Die Wetzlarer Optik gipfelte im Weltruhm einer Kamera, die die moderne Fotografie begründete: die Leica.

Was Wetzlars der Welt geschenkt hat

Die Treppe führt links ums Eck, aus dem Grau hinein ins Licht, das rechts durch ein gigantisches Fenster fällt. Es öffnet den Blick in die Ferne, ein Wald am Horizont, darüber der mächtig wirkende Himmel. Und auf der anderen Seite: Fotos. Berühmte Bilder, die Wetzlar der Welt geschenkt hat.
Wir sind im neuen Ernst-Leitz-Museum. Irgendwie ist es logisch, dass die Wanderausstellung "Augen auf!" nach fünf Jahren Tingelei durch die Museen Deutschlands und Europas auf ihrer letzten Station in Wetzlar ankommt. Denn gezeigt werden Fotos, Momente der Welt und ihrer Geschichte, die die besten Fotografen seit mehr als 100 Jahren mit der Leica eingefangen haben. Museumsdirektor Reiner Packeiser begeistern die Fotos noch immer.
"Das ist auch ein sehr berühmtes Foto von Nick Ut: das Napalm Girl. Hat ja unter anderem mit dazu beigetragen, sagt man, damals, dass der amerikanische Präsident entschieden hat, wir beenden diesen furchtbaren Krieg", erzählt Packeiser.
Eine Kopie der weltweit ersten Kleinbildkamera mit 35-mm-Filmformat, der Leica.
Mit ihrer kompakten Größe wurde die Leica zum Geburtshelfer der dynamischen Reportagefotografie.© Klaus Wilhelm / Deutschlandradio
"Ich war neulich hier mit Amerikanern unterwegs. So im Alter von 70, 80 Jahren. Und die waren im Vietnamkrieg. Und die standen davor und sagten: Genau so, hautnah, war das damals. Zum Beispiel hier diese jungen Frauen und Kinder irgendwo im Sumpf mit Schilfgras links und rechts. Man kann sich vorstellen: Der Fotograf stand genau auch dort in dem Sumpf. Bis zur Hüfte."

Leica revolutionierte die Fotografie

Autor: "Was bedeutete oder bedeutet heute noch die Erfindung der Leica kulturhistorisch?"
"Mit der Leica ist natürlich eine ganz andere Fotografie möglich geworden. Stellen Sie sich das mal bildlich vor im Kopf: Jemand hat ein Stativ, einen Holzkasten und fünf Platten. Und um fünf Fotos zu schießen, braucht er 60 Minuten. Damals, vor der Leica, hat man einfach noch überlegt, ganz genau: Wie muss das Foto sein? Und dann genau so das Foto geschossen. Was anderes war gar nicht möglich.
Und auf einmal ist da so eine kleine Kamera. Die können Sie in die Hosentasche stecken. Und da entstehen sehr viele spontane Fotos. Experimente. Es erlaubt eine ganz andere Fotografie. Dann kommt natürlich auch noch ein ganz neuer künstlerischer Ansatz dazu. Da gab es das neue Sehen, da wurde mit Unschärfe experimentiert, da wurde aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln fotografiert.", so Packeiser.
Dieses ganz spezielle Wetzlarer Wahrzeichen ging 1925 in den Leitz-Werken in Serie. Die erste Kleinbildkamera der Welt, Vorbild für nahezu alle anderen Fotoapparate bis heute.

Im kleinsten Leica-Store der Welt

Vom Domplatz zweigt die vergleichsweise schmucklose und kurze Baugasse ab. Hier ist das Geschäft von Lars Netopil, der vermutlich kleinste Leica-Store der Welt.
Netopils private und kommerzielle Leidenschaft gilt historischen Leicas. Aufgewachsen ist er in der Nachbargemeinde Solms, in die es die Leica-Camera-Werke mehr als 20 Jahre lang verschlagen hatte.
"Bevor man dann vor fünf Jahren umzog nach Wetzlar zurück in den großen neuen Unternehmenssitz im Leitzpark.", sagt Netopils.
Autor: "Aber jetzt sind Sie Wetzlarer?"
"Ich wohne seit 1997 hier am Domplatz."
Autor: "Also Sie wissen, wie es hier abgeht in Wetzlar?"
"Ja, im Grunde schon. Diese Prägung durch die Industrie ist natürlich schon deutlich. Wetzlar war immer eine Arbeiterstadt, eine Industriestadt. Da gab es höchstens einen Fabrikdirektor oder Inhaberfamilie, Sparkassendirektor und dann war Schluss. Und das merken Sie heute."
Ernst Leitz der Ältere, Gründer des "Optischen Instituts", und sein Werkmeister Oskar Barnack sitzen in Hut und Anzug auf einer Bank.
Ernst Leitz der Ältere (l.), Gründer des "Optischen Instituts" und sein Werkmeister Oskar Barnack, Erfinder der Leica, aufgenommen 1914.© picture alliance / dpa / Leica
"Also auch eine andere Mentalität, die dahinter steckt?"
"Das würde ich sagen, ja. Wobei Leitz nochmal eine Sonderstellung einnimmt. Wir haben hier ja Schwerindustrie, Buderussche Eisenwerke und anderes. Aber Leitz, das hat schon eine eigene Prägung hinterlassen.
Stellen Sie sich mal vor: Das Unternehmen hatte zu Hochzeiten Ende der 50er Jahre so 7000 Mitarbeiter. Und Leute waren da von 15 bis 65, teilweise 50 Jahre lang beschäftigt. Und das dann in mehreren Generationen hintereinander in gewissen Familien, das hat natürlich Spuren hinterlassen. Die Art der Präzision, mit der diese Produkte gefertigt wurden und werden, das war natürlich auch irgendwo tief verwurzelt in den beteiligten Personen."

Der Wetzlarer: exakt und pünktlich

Autor: "Ist der Wetzlarer dadurch pedantisch geworden?"
"Ich will nicht sagen, im Sinne einer militärischen Disziplin. Aber es ist schon durchaus merkbar. Ich habe beispielsweise ab 15.30 Uhr geöffnet. Und in den Anfangsjahren, wenn dann irgendwelche Mitarbeiter von der Firma Leitz hier antrabten, das war durchaus so, dass die um Viertel nach 3 hier eine Viertelstunde lang standen, bis ich aufgetaucht bin. Und wenn das um 15:32 Uhr war, haben die erst mal vorwurfsvoll auf die Uhr geguckt. Es ist schon irgendwo eine Exaktheit und eine Genauigkeit, die sich in das Rest-Leben dieser Leute zum Teil durchaus fortgepflanzt hat. Pedantisch würde ich nicht unbedingt sagen."
Netopil hat einen Film in eine 90 Jahre alte Leica eingelegt. Wir wollen zum Wetzlarer Eisenmarkt, um mit der Kamera das erste Bild nachzustellen, das Oskar Barnack 1914 mit der Ur-Leica gemacht hat.
Wir sind am sogenannten Barnack-Punkt am Eisenmarkt angekommen. Eine Vignette auf der Straße weist auf die Bedeutung dieses Ortes hin. Mal sehen, ob die alte Leica aus Netopils Laden noch was bringt.

1914 am Eisenmarkt: Das erste Leica-Foto

"Das ist dieser sogenannte Leica-Fotopunkt. The first Leica-picture was taken here. Das ist in etwa, was wir hier sehen, diese Szene der berühmten Barnack-Aufnahme. Das Haus ist schon über 500 Jahre alt.", sagt Netopil.
Autor: "Darf ich zur Tat schreiten? Fühlt sich schwer in der Hand an."
"Sie ziehen jetzt zunächst auf, im Uhrzeigersinn. Greifen Sie von oben, dann haben Sie besser Gewalt, bis zum Anschlag, da passiert nix. Das ist ungewohnt, ne?!", so Netopil.
"Total!"
Heraus kam übrigens ein Foto, das sich durchaus sehen lassen kann.

Unglücklich verliebter Goethe – Vorlage für den Werther

Es ist eine der begehrtesten Stätten der Stadt: das Lottehaus. Womit wir bei einem der berühmtesten – wenn nicht gar dem berühmtesten – Gast wären, den Wetzlar je gesehen hat: Johann Wolfgang von Goethe. Die Dichter-Ikone gönnte sich eine folgenreiche Sommer-Liebelei mit der reizenden Wetzlarerin Charlotte Buff. Dieses Schauspiel fand 1772 statt, als der 23jährige Jung-Jurist für ein Praktikum am Reichskammergericht angereist war. Stadtführerin Christiane Spory ist noch heute von den Ereignissen und ihren Protagonisten tief beeindruckt.
Das Lottehaus in Wetzlar.
Das Lottehaus verdankt seinem Namen einer Gedenkstätte, die Wetzlarer hier einst für Charlotte Kestner, geb. Buff, eingerichtet hatten.© Klaus Wilhelm / Deutschlandradio
Wir sitzen vor dem Lottehaus. Hier lebte die damals 19-Jährige und sorgte für ihre zehn kleinen Geschwister und den Vater. Das Gericht interessierte den notorischen Bonvivant Goethe so gar nicht. Das Frankfurter Reichensöhnchen hockte sich lieber mit den Bauern untern Baum. Ein Affront für die Hochkopferten.
"Und die Leute haben hier wirklich die Nase gerümpft. Der hat das System auf den Kopf gestellt. Die haben gesagt: Der junge Goethe aus Frankfurt läuft hier rum wie ein Geck mit seinen Stulpenstiefeln und gelber Weste. Blauem Frack. Er soll pink getragen haben. Er soll sogar nackt in der Lahn gebadet haben. Also man möge sich das vorstellen. Und er schrieb später davon, dass er am liebsten als Maienkäfer durch die Lüfte geflogen wäre", sagt Spory.
Autor: "Und dieser Maienkäfer, der hat sich dann verknallt."
Spory: "Genau. Hals über Kopf! Er kam am 9. Juni 1772 mit der Kutsche hier vor dem Tor angefahren, um die Lotte zu einem Ball abzuholen, den seine Tante arrangiert hatte. Die Lotte war noch nicht ganz fertig mit Ballgarderobe, der Frisur, teilte dann noch allen ihren kleinen Geschwistern das Abendbrot aus.
Und ich stelle mir das einfach so vor, dass er mit wehenden Röcken hier den Hof runter lief, am Tor stand. Die Kinder alle hinterher mit dem Brot in der Hand. Und Goethe hat dieses hübsche Mädchen gesehen und die fröhlichen Kinder drumherum und war dem Anblick verfallen. Das war für ihn der Inbegriff einer echt deutschen Idylle.
Und das setzte sich fort, als die Lotte zu ihm in die Kutsche stieg und die sich gleich gut verstanden hatten. Die Lotte war nicht gerade auf den Mund gefallen, hatte viel gelesen, liebte Musik. Die Fahrt zum Ball, so kann man sich das vorstellen, war für beide sehr kurzweilig."
"Dieses weiße Haus, was wir vor uns sehen, vier Stockwerke, das stand schon, ne?!"
"Ja, das war im Mittelalter die Ritterherberge", erklärt Spory.

Mäßigung war nicht Goethes Sache

Autor: "Der Goethe war nun verliebt. Und was hat die Charlotte gemacht?"
"Die Charlotte hat es genossen, dass der Goethe in sie verliebt war. Er ging hier ein und aus. Er hat der Charlotte geholfen bei ihrer Arbeit, das heißt, er hat hier auf der Treppe gesessen und Bohnen geschnippelt, im Krautgarten rumgehackt, er ist auf die Bäume geklettert, hat das Obst runter geworfen, hat vor allem mit den Kindern gespielt.
Ein Fachwerkhaus mit Blumen an der Fassade in der Altstadt von Wetzlar.
Die Häuser und Plätze Wetzlars machte Goethe zum Schauplatz seines Dramas "Die Leiden des jungen Werther".© Klaus Wilhelm
Das war für ihn so ein schönes Leben. Das hört sich so romantisch an, war aber nicht so romantisch, denn die Lotte war damals schon einem anderen Herren versprochen, anJohann Christian Kestner. Der hatte schon Jahre zuvor um die Lotte angehalten, und sie war ihm seitdem versprochen", so Spory.
"Die Lotte hat aber trotzdem mitgemacht, aber das jähe Ende kam."
Spory: "Es kam, wie es kommen musste. Eines Abends ist der Kestner noch mal zu seinen Geschäften geeilt, und es heißt, der Goethe sei vor der Lotte auf die Knie gefallen, habe sie umarmt und geküsst. Und das war natürlich der Moment, wo die Lotte nicht mehr so tun konnte, dass das alles rein freundschaftlicher Natur ist.
Da musste sie Farbe bekennen – und hat das sehr deutlich getan, indem sie dem Goethe sagte, dass er von ihr nichts als Freundschaft zu erhoffen hat, und dass er sich jetzt mal ein bisschen zusammenreißen soll. Mit dem Mäßigen war das Goethes Sache so gar nicht. Der war dann so abgekühlt, dass er nicht lange darauf aus Wetzlar abgereist ist. Zu Fuß die Lahn entlang. Er sagte, er müsse den Kopf frei bekommen. Das ist eine Sache, die kann ich wirklich nur empfehlen. Ist bei ihm gut gelungen, denn in Lahnstein hat er wieder eine neue junge Dame kennengelernt."
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